Leinwand-Trend Reise-Doku: 15 Minuten Ruhm?

In den vergangenen Jahren hat sich für viele Touristen der Sinn ihres Reisens gewandelt. Weg vom Entdecken und Erholen, hin zur Selbstfindung und Selbstdarstellung. Damit einhergehend, änderte sich auch die Art der Reiseaufzeichnungen. Nun steht die nächste Schwelle an, der Sprung auf die Kino-Leinwand. Muss das wirklich sein?

Es ist gar nicht lange her, da schrieb mir ein verblüffter Leser, ob sein Globus ein anderer sei, als der, den wir hier in der Redaktion nutzen würden – uns ist ein Zahlendreher bei der „Position“ durchgerutscht, eine Karawanserei aus dem Iran versank nun hochoffiziell in den Tiefen des Atlantischen Ozeans. Autsch. Als ich aber den Atlas so bei der Hand hatte, stellte sich aus gegebenem Anlass wiederum mir eine Frage: Was ist eigentlich eine Weltreise? Und was ist ein Viertel der Welt? Darauf gibt es ganz verschiedene Antworten.

 

USA ist die Welt und Südafrika ein Viertel davon

Klar, wir Journalisten lieben plakative Headlines und provokante Aussagen, da ist ein bisschen Überspitzung als Mittel zum Zweck natürlich erst einmal völlig o. k. Wenn ich aber von einer „Weltreise ohne Drehbuch“ ­lese, die (nach einem kurzen, vom Roadtrip losgelösten, Vorgeplänkel in Kenia und auf Hawaii) im VW Käfer von Mexiko nach Neufundland führte, dann wird man auch als abgebrühterer Schreiberling ein wenig stutzig. Schauspielerin Maria Ehrich (Polizeiruf, Ku’Damm 59) offensichtlich nicht, sie vermarktet ihren „authentischen“ Selbstfindungstrip mit Freund und Filmemacher Manuel Vering derzeit nicht nur erfolgreich als Buch, sondern auch noch als Kinofilm – der VW Käfer mit Dachzelt wird’s schon richten, schließlich ist so -authentisches #vanlife doch gerade voll angesagt. „-Leaving the frame“, wird die irgendwie sehr singuläre Weltreise betitelt. Und irgendwie hoffe ich, dass das Weltbild der 26-Jährigen doch noch ein wenig wächst, damit auch die restlichen 83 Prozent der Welt hineinpassen. Das fällt, mal den Film beim Wort genommen, aus dem Rahmen, denken Sie? Leider nein, denn da wäre noch ein weiteres Rechenspiel, das nicht aufgeht, ein weiterer Kinofilm, der nicht hält, was er verspricht.

Kurz ein bisschen Erdkunde. Die Gesamtfläche der Erde ist irre 510 Millionen Quadratkilometer groß. 30 Prozent davon sind Land: 149.430.000 Quadratkilometer, Antarktis (13 Mio. Quadratkilometer groß) inklusive. Thomas Köhn hat ein Viertel davon entdeckt.

Ein Reisefilm lebt vom Fernweh, von Träumen, Erlebnissen und Erfahrungen. Nicht von Eitelkeit, Geltungsbedürfnis und finanziellen Vorteilen

Was für ein Wahnsinn! Was für ein Glückspilz! Zu Recht stolz, blickt er auf dem Filmplakat in die Ferne, sucht nach Land, das er noch nicht erkundet hat. Oder schaut er aus der Ferne zu, was die Zuschauer von seiner Kinoproduktion „Ein Viertel der Welt“ halten? Die könnten sich nämlich wundern, dass 25 Prozent von 149 Millionen Quadratkilometer irgendwie mehr sind, als „eine sechsmonatige Reise durch das südliche Afrika“ (Projektbeschreibung) zu zeigen vermag. Achtung, Zahlen: Südafrika, Namibia und Sambia haben zusammen 2,8 Millionen Quadratkilometer zu bieten. Auch kein Pappenstiel, aber eben gerade nur 2,05 Prozent. Keine 25. Also alles nur ein Missverständnis, ein blöder
Tippfehler? Vermutlich nicht.

 

Da denkt man sich: „Reiß aus!“

Die Szene der Allrad-Auto-Overland-Camp-Nomaden- Globetrotter gehört ohne Zweifel zu den extrovertiertesten des Landes. Seht her, wie toll ich die Welt entdecke! Es scheint einen so starken Drang zu geben, sich zu publizieren, dass es nicht mehr reicht, Freunde und Verwandte an düsteren Februar-Samstagen mit Diashows und Videoschnipseln durch den Abend zu foltern. Heute muss es die ganz große Bühne sein, direkt an Youtube und Instagram vorbei, rein ins Kino. Fast drängt sich einem der viel beschworene Zusammenhang aus Sportwagengröße und Boxershorts-Füllmenge auf; je kleiner das Reiseerlebnis, desto größer die Leinwand. Und weil man im Kinosessel sitzend auch nicht mehr unbedingt eine reale Reisedokumentation erwartet – schließlich ist der Kinosaal ja die wahre Heimat von Elfen, Hobbits und Superhelden – können zeigefreudige Overlander hier auch ein bisschen dicker auftragen, Kommastellen ein Stück verschieben oder einfach mal die etwas angeschrammte Beziehungskiste aufklappen. Personality geht ja immer, das ist dem leidgeprüften Publikum spätestens seit „Expedition Happiness“ (2017) bekannt. Supertoll. Und manchmal ist ein bisschen seichte Unterhaltung ja auch ganz o. k.

Wenn aber das Gehirn mangels sehenswerten Inhalts auf der Leinwand im Leerlauf dreht, bleibt Platz für den Gedanken, was diese Menschen wohl antreibt, ihre private, persönliche Reise der ganzen Welt im 16:9-Format zu Füßen zu legen?

Dieser Gedanke kommt einem vor allem beim Seelen-striptease von Ulrich Stirnat und Lena Wendt, die sich zwei Jahre, mehr oder weniger gemeinsam, durch Afrika kämpften. Hier ist der Filmtitel „Reiß aus!“ weniger eine überzogene Verheißung als eine meist missverstandene Aufforderung an den Kinogast. Wer ein Roadmovie erwartet, wird schwer enttäuscht, wer im Umgang mit Fremdschäm-TV erfahren ist, vermisst nur die Werbepausen, um Popcorn zu holen und den Prosecco zu lenzen. Der 120-minütige beziehungstechnische Grenzgang, in dem zufälligerweise ein Land ­Rover als Requisite und Dauerbaustelle auftaucht, wo sehenswerte Passagen gerade so knapp gesät sind, dass man doch noch sitzen bleibt, lässt einen immer aufs Neue erschauern, wie sehr wir Overlander nach Stoff zu unserem Hobby lechzen, dass wir uns so was immer wieder antun. Immer wieder denselben Fehler machen.

 

Money makes the world go round

Der richtig schale Abgang kommt dann, wenn der finanzielle Aspekt der Angelegenheit unübersehbar wird. Das war bei der Expedition Happiness so und wird bei „Leaving the frame“ nicht anders, nur „Reiß aus!“ ist da ein Ausreißer – nach unten. Dem Film, der die Zuschauer ungefragt miterleben ließ, wie Ulrich Stirnat bei der Verwirklichung von Lena Wendts Ego-trip (deshalb auch der Untertitel: „Zwei Menschen, zwei Jahre, ein Traum“) unter die Räder kam – die Protagonisten leben seit Langem getrennt –, folgt jetzt das passende Seminar: „REISS AUS – (er)lebe dich selbst! Das Seminar zum Film“. Ein Buch ist natürlich auch im Handel. Hab nur ich Magenschmerzen?

 

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Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe Reiseerzählungen. Berichte, Anekdoten, Bilder Videos, Filme, Dias, Dokumentationen, Roadtrips, Spielfilme, Märchen. Ich bin schon als Kind in Gedanken 20.000 Meilen unter den Meeren gereist oder auf dem Floß über den Mississippi, freue mich heute im Büro über eine Postkarte oder eine Email von unseren Lesern oder Freunden, kann auf Youtube-Kanälen mitfiebern oder mich in Blogs verlieren. Und zwar ab einem ganz konkreten Moment: Wenn ich die Reiselust und den Entdeckerdrang der Protagonisten spüre.

So etwas passiert immer wieder, meist unerwartet – und dann ist es umso schöner. Am Lagerfeuer auf ­einem Globetrotter-Treffen. Bei uns am Messestand. In einem Telefonat. Einen besonderen Moment dieser Art durfte ich vor fünf Jahren einmal erleben. Da stand ein Mann in Köln auf einer kleinen Bühne und erzählte davon, wie er sich in Panama ein Floß baute, sein Motorrad darauf stellte, eine Schiffsschraube mit dem Motor verband und in See stach, Kurs Kolumbien. Was folgte, war eine Odyssee – keine Überraschung –, aber selten war ich so gebannt. Dylan Wickrama heißt dieser Abenteurer, er berichtete von dieser außergewöhnlichen Episode seiner Reise auf eine so dezente, gleichzeitig aber auch flammend mitreißende Art, dass ich staunend dasaß und lauschte. Was für ein Typ, was für eine Story. Irre. Nun kommt diese Geschichte auch ins Kino und ich hoffe, dass der Gänsehaut-Moment erhalten bleibt. Ein bisschen habe ich Angst vor dem Film – was, wenn er diese positive Erinnerung nicht trägt? Kann man aus einer wahnwitzigen Floßfahrt ein Kinoformat stricken? Und vor allem – muss man?

 

Broadcast yourself

Sei dein eigener Sender – mit diesem Slogan ging einstmals das Videoportal Youtube an den Start. 14 Jahre nach Gründung gibt es dort auch zum Overlanding und Offroaden mittlerweile zahllose Kanäle, viele Reisende vloggen, führen also ein Video-Tagebuch, mal mehr, mal weniger aufwendig. Website, Video-Kanal, Kinofilm, das scheint sich zur heiligen Dreifaltigkeit zu entwickeln, das Buch verliert, so scheint es, an Bedeutung. Dabei geschehen dort ganz wunderliche Dinge.

Selten gab es so viele Titel, die um die Käufergunst buhlen, kaum ein Verlag, der nicht irgendein Buch mit Camper auf dem Cover anbietet. „Abenteuer Vanlife“, „Van Girls“, „vanlife diaries“, „Home is where you park it“ und viele andere sind nur die schnell abschöpfbare Crema auf dem fix aufgebrühten Trendthema, die zwar selten Tiefgang bieten, aber zum
günstigen Preis als Geburtstagsgeschenk für campingverrückte Menschen taugen. Papier, das keinem wehtut. Schmerzhafter wird es, wenn sich Titel und Inhalte mangels Individualität zu einer Melange vermischen, die beim Konsumieren so beliebig schmeckt wie ein Cappuccino aus dem Automaten. „Reiß aus“ hier, „Ausreißer“ dort. „Hippie Trail – auf dem Landweg nach Indien“, „Abenteuer Hippie Trail – Auf dem Landweg nach Indien“ oder lieber „Im Bulli auf dem Hippie Trail“? Dann wäre da noch der „Roadtrip“, ein „Roadtrip mit Frau Scherer“, zwischendrin ganz viel „Abenteuer“ und „Freiheit“, selbst die Autos (derzeit angesagt: Kurzhauber und Bullis) gleichen sich – da findet sich sogar ein und derselbe knallgrüne Wagen auf zwei Büchern verschiedener Autoren. An sich eine originelle Anekdote, wären die Inhalte dieser Reisetagebücher nicht in den meisten Fällen genauso austauschbar wie ihre Titelseiten. Jeder Trip, jede Elternzeit, jeder längere Urlaub, so scheint es, wird gerade in ein Buch verwandelt. Egal, ob es „40.000 Kilometer bis nach Sibirien“ geht (wie auch immer das gelingt) oder „46.000 Kilometer durch Afrika“, „20.000 Kilometer durch die USA“ oder, ganz allgemein, „56.000 Kilometer, 3 Kontinente, 20 Monate“. Manchmal scheint es, als würde das Buch besser, wertvoller, inhaltsschwerer, je mehr Meilen im Rückspiegel liegen.

 

Geschichten erleben, nicht aufschreiben

Es mag verblüffend sein, dass die folgenden Sätze vom Redakteur eines Magazins kommen, das sich mit dem Thema Reisen beschäftigt, aber: Lasst das Schreiben, Dokumentieren, Filmen doch einfach sein! Reißt aus in die Welt, erlebt Abenteuer und Roadtrips, rollt über Hippie- und Wüstentrails – aber nutzt diese Zeit für euch selbst. Berichtet euren Freunden, schwärmt am Lagerfeuer, erzählt auf einem Globetrotter-Treffen mit wenigen Bildern und umso mehr Euphorie von euren Erlebnissen, genießt den Austausch, anstatt Wochen und Monate damit zu verbringen, etwas mit aller
Gewalt auf die Leinwand oder in die Druckerei zu zerren, das eigentlich ganz woanders hingehört: in euer Herz.

Gute Reise! 

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