Winterreise in die Normandie: Leserreise

Trotz des kühlen Windes empfehlt die dreiköpfige Familie Habermeier eine Winterreise in die Normandie. Sie erzählen von ihren Erlebnissen

Normandie
Der Mont-Saint-Michel in der Abenddämmerung

Familie Habermeier

Mit der Geburt von unserer Tochter war klar: Sowohl spontanes als auch längeres Reisen soll weiterhin möglich sein. Deshalb haben wir einen eigenen Offroad-Caravan geplant und gebaut, der mit dem G das optimale Gespann für alle On- und Offroad-Abenteuer darstellt. Ankuppeln und los! So sind inzwischen auf 30 Reisen durch Europa 100.000 Kilometer zusammengekommen, und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht.
 

Normandie

Mercedes W461 G 280 cdi mit Offroad-Caravan

Baujahr: 2008 (G), 2012 (Anhänger)
Motor: 184 PS
Verbrauch: 15 l/100 km (als Gespann)
Aufbau: Anhänger (Eigenbau)
Schlafplätze: 4

 

Mittlerweile im zehnten Jahr, sind wir jährlich drei- bis viermal mit unserem W461er G und unserem selbstgebauten Offroad-Caravan in Europa on- und offroad unterwegs. Die Normandie hatten wir bislang nie auf der Liste – nicht mal darüber kundig gemacht, einfach nur links liegen gelassen. Ohne große Vorbereitung und Reiseliteratur, nur mit Navi und einer alten Karte ausgerüstet, geht’s kurz nach den Familienfesten an Weihnachten los zum achttägigen Roadtrip entlang der Küsten der Normandie. Auf der Anfahrt nach Dieppe der erste vertiefte Blick in die Karte: Auf rund 600 Kilometer Küstenlinie finden sich Abschnitte wie die Alabasterküste, Blumenküste und Perlmuttküste. Wir sind dann doch gespannt bei solch verlockenden Namen.

Als wir die Küste erreichen, beeindruckt uns der Anblick der gigantischen Kreidefelsen. Raus aus dem Auto, kurzes Strecken und Dehnen und ab an den Strand. Die schwache Wintersonne scheint, doch die dünne Wolkendecke zeichnet das helle Beige der Felsen, das Türkis des Meeres und das Blau des Himmels harmonisch weich. So eine Lichtstimmung gibt es nur im Winter. Die frische, salzhaltige Seeluft, das muntere Klackern der Kiesel beim Zurückrollen des Wassers, die aufspritzende Gischt und das Geschrei der Möwen über unseren Köpfen gepaart mit der Weite und Unendlichkeit des Meeres, lassen die Seele aufatmen und alles andere vergessen. Was zählt, ist nur das Hier und Jetzt. Fasziniert von der Veränderung der abendlichen Lichtstimmung, kehren wir beseelt, aber hungrig zum Wohnwagen zurück. Nach einem warmen Abendessen bauen wir rasch die Betten und kuscheln uns in Decken und Schlaf-säcke, um uns anschließend vom Meer in den Schlaf singen zu lassen.

„Alabaster-, Blumen- und Perlmuttküste: Die Natur ist die größte Künstlerin“

 

Am Ozean Entlang

Erst kurz vor neun Uhr ist Sonnenaufgang. Wir machen uns auf weiter Richtung Westen, immer der Küstenlinie folgend. Einige Kilometer weiter bei Étretat finden die Kreidefelsen ihren Höhepunkt in Form von Bögen und Kegeln, die das Meer ausgewaschen und geformt hat – bizarre Skulpturen, die nicht nur uns, sondern auch viele andere Besucher anziehen und staunen lassen, zu welcher Kreativität die Natur fähig ist. Doch zuvor machen wir noch einen Abstecher in ein pittoreskes Dörfchen: Yport liegt direkt an der Meeresküste am Ende eines bewaldeten Tals. Trotz des anhaltenden Regens spazieren wir kurz an die Pier und zu den blauweißen Badehäuschen am Kiesstrand. Da wir zufällig an einem Markttag, einem Mittwoch, dort sind, nutzen wir die Gelegenheit und decken uns für ein paar Tage mit Vorräten ein. An den Küsten gibt es ganzjährig fangfrischen Fisch und speziell im Winter Muscheln aus dem Meer, quasi direkt vor die Campertür.

Beim Kochen im Camper scheiden sich ja die Geister – bei uns werden selbst die Schätze des Meeres in der Wohnwagenküche zubereitet, ordentliches Lüften während und nach dem Kochen reicht. An diesem Tag entscheiden wir uns für drei Fischfilets sowie Jakobs- und Miesmuscheln (das Rezept für eines unserer Muschelgerichte gibt es über den QR-Code). In den kleinen Küstenorten werden wir in den nächsten Tagen noch ein paar Mal einkaufen und dabei die Chance nutzen, unser eingerostetes Schulfranzösisch anzuwenden und aufzufrischen. Neben typisch Französischem wie Baguette, Käse, Pâte und Rillette stehen natürlich auch regionale Produkte wie Cidre und Calvados auf der Einkaufsliste.

 

Normandie
„Alabaster-, Blumen- und Perlmuttküste: Die Natur ist die größte Künstlerin“

 

Geschichtsträchtige Sandstrände

Auf der weiteren Fahrt flacht die Küste immer mehr ab und wir erreichen die langen Ebenen der Sandstrände der Blumen- und Perlmuttküste. Ein Spaziergang bei Ebbe ähnelt dort eher gemächlichem Flanieren auf nahezu menschenleerer Flur. Nur ab und zu müssen Priele und Salzwassertümpel durchschritten oder umgangen werden, während der Blick weit bis zum Horizont schweifen kann – Ausruhen für Augen und Seele. Doch die Sandstrände haben nicht nur Erholung zu bieten, sie sind auch geschichtlich von Bedeutung: Als am 6. Juni 1944 die Alliierten auf verschiedenen Abschnitten landen, wird das Ende des Zweiten Weltkrieges eingeläutet. Zahlreiche Bunker sind zu sehen, teilweise verfallen, oft aber erhalten und manchmal sogar als Viehunterstände auf Weiden genutzt. Auf fast jedem Dorfplatz steht ein Panzer, überall Informations- und Gedenktafeln oder Museen. Was für uns Geschichte zu sein scheint, ist hier auf besondere Art und Weise vollkommen gegenwärtig. Ein Landstrich, der uns nachdenklich und gleichzeitig sehr dankbar für unsere Freiheit macht.

 

Normandie
Das Cap Lévi zur goldenen Stunde: Weiches Licht trifft auf raue Felsen

 

Silvester an der Felsenküste

Den Jahreswechsel verbringen wir im Norden des Cotentin am Cap Lévi. Die Küste besteht hier aus rundgeschliffenen roten Granitfelsen und kleinen Sandbuchten. Den Nachmittag des Silvestertages wandern und kraxeln wir zwischen den Felsen herum und genießen die Sonnenstrahlen, die den Strand gegen Abend in ein wunderbar weiches, goldenes Licht tauchen. Einen schöneren Jahresabschluss können wir uns in diesem Moment nicht vorstellen. Um Mitternacht beobachten wir das Feuerwerk der Bewohner von Cherbourg windgeschützt durchs offene Fenster unseres Wohnanhängers, und anstatt mit Sekt stoßen wir mit Cidre auf das neue Jahr an. Der stramme Wind am Cap schaukelt uns dann in den Schlaf.

 

Normandie
Das Gespann am Landungsstrand Gold Beach: Hier treffen Freiheit und Geschichte aufeinander. Der Strandabschnitt war Teil der alliierten Invasion am D-Day 1944

 

Nur ein paar Kilometer sind es am nächsten Morgen bis zum kleinen, schmucken Fischerort Barfleur, in dem verschlafen-heitere Sonntagsstimmung herrscht. An der Kaimauer schaukeln die bunten Fischerboote träge in der Sonne und die Einwohner vertreiben den Silvester-Kater an der frischen Luft mit einem Café vom Bar-Tabac. Die Lust auf Pain au chocolat lockt uns zum Bäcker, wo wir auch noch gleich ofenfrisches Baguette für unseren Mittagsimbiss mitnehmen. Dieses lassen wir uns dann kurz darauf zusammen mit Käse und Wein am Strand von Gatteville schmecken, während wir den Leuchtturm mit seiner recht strengen Architektur und imposanten Höhe betrachten. Unsere Gedanken wandern: Wie wichtig diese Gebäude als Wegweiser für Seeleute sind, um Menschen wohlbehalten an Land zu bringen. Uns Landmenschen hingegen locken Leuchttürme ans Meer und schüren die Sehnsucht nach der Ferne. Angeregt von solch philosophischen Gedanken, entspannt vom Wein und weil wir so ein schönes Plätzchen ergattert haben, entscheiden wir spontan, zu bleiben und auch den ersten Nachmittag des Jahres am Strand zu verbringen, um dem Spiel von Ebbe und Flut zuzusehen.

Die Sonne taucht den Strand in goldenes ­Licht

 

Campen erwünscht!

Wenn es geht, stehen wir über Nacht frei, schon immer. Selten war es jedoch so einfach wie zur Winterzeit in der Normandie, gigantische Stellplätze für die Nacht zu finden. Auch dort gibt es Parkplätze mit Höhenbeschränkung, jedoch sehr viele ohne, sogar an tollen Plätzen direkt am Meer. Zudem sehen wir wenig Verbotsschilder, im Gegenteil: sogar explizite „Erlaubschilder“. Wie sympathisch! Gepaart mit den vielen Möglichkeiten zur Ver- und Entsorgung in Frankreich ist es ein Einfaches, sich auch als freistehender Gast zu benehmen und alle Plätze so sauber zu verlassen, wie man sie vorgefunden hat. Zu der jetzigen Jahreszeit hat man auch die malerischen Stellen fast für sich alleine, und speziell die Cotentin-Halbinsel wird uns, auch in Bezug darauf, lange positiv in Erinnerung bleiben.
Wir fahren am nächsten Morgen weiter zum Cap Hague. An dieser windumtosten Spitze mit ihren scharfkantigen, von tiefen Furchen durch-zogenen Felsen, spüren wir zum ersten Mal die sehr unwirtliche, fast lebensfeindliche Seite der Küste und schwanken zwischen Erleichterung und Bedauern, dass wir bei Ebbe hier sind. Die Wellen, die die Flut und dieser eisige Wind gegen die schroffen Wände werfen, sind bestimmt unglaublich gigantisch, und wir machen uns einen gedanklichen Knoten ins Taschentuch, dies eines Tages zu erleben.
Eigentlich sollte uns nach all den Eindrücken die Wandlungsfähigkeit dieser Gegend nicht mehr überraschen, und sie tut es doch wieder: Entlang der Passage de la Déroute gibt es beachtliche Sanddünen und erneut lange, flache Sandstrände. Fast zum Greifen nah sind hier die Kanalinseln. Bunte Badehäuschen sitzen bei Gouville-sur-Mer auf und zwischen den Dünen und geben im Sommer das perfekte Setting für einen Badeurlaub. Das Wetter wechselt in der Normandie schnell und häufig; unser Lohn für das Aushalten des Regens ist hier ein wunderschöner Regenbogen. Ein weiterer Blick auf die farbenfrohen Dächer, und wir erahnen die Quelle der Inspiration dafür. Doch nicht nur für diese bunten Häuschen ist der Ort bekannt, dort soll es auch die besten Austern Frankreichs geben. Die zahl-reichen Austernbänke, die ebenfalls bei Ebbe gut zu sehen sind, bezeugen die Wichtigkeit dieser wirtschaftlichen Küstennutzung.

 

Normandie
Vor allem im Winter gibt es frische Muscheln aus dem Meer

 

Majestätischer Schlusspunkt

Im nahenden Dämmerlicht kommt er schließlich ins Blickfeld: „Le Mont-Saint-Michel“, der majestätische Schluss­punkt unserer Tour und berühmter Wallfahrtsort des Mittelalters, der heute auch noch Touristen aus aller Welt anzieht. An diesem Abend hören wir beim Spaziergang über die Salzwiesen, von denen die Lämmer bereits in ihre Ställe verschwunden sind, einen Vielklang an Sprachen. Wir betrachten den „Mont“ in der weitläufigen Bucht für heute nur aus der Ferne und lassen in Gedanken nochmals die vielen Eindrücke dieses Road­trips auferstehen, bevor wir uns ein letztes Mal in unsere Schlafsäcke ­kuscheln.
Alles richtig gemacht? Wir haben, wie so häufig, wenn wir zwar mit einem Ziel, jedoch ohne Plan unterwegs waren, für uns viel Neues entdeckt. Inzwischen ist es für uns unfassbar, dass wir diese wunderschöne Region so lange nicht beachtet haben. Daher unser Tipp für alle und den kommenden Winter: die Küsten der Normandie.

„Selten findet man so einfach einen Stellplatz in der Normandie wie im Winter“

Teilen