Leser unterwegs in Norwegen: Geräusche aus dem Nichts

Sarah Kringe und ihr Freund Mathias kennen sich noch gar nicht so lange, als sie beschließen, zu einer Reise aufzubrechen – open end. Mit ihrem VW T5 fuhren sie vom Balkan über das Baltikum bis zum Nordkap und verbrachten die kalte Jahreszeit im Norden Norwegens, die Standheizung erwies sich dabei als treuer Begleiter.

Die Tage im Norden Skandinaviens sind kurz, die Sonne kommt immer nur für wenige Stunden zum Vorschein

Das Geräusch klingt wie ­eine Mischung aus einem verstopften Abfluss und einem riesigen Blasebalg. Irritiert lasse ich den Topf sinken, den ich gerade von Ruß zu befreien versuche, und richte meine Stirnlampe in die Dunkelheit vor mir, auf die glatte Wasseroberfläche des Fjords. Da ist es wieder, rollt durch die stockdunkle norwegische Nacht auf mich zu, gurgelnd, ein wenig asthmatisch. „Da draußen atmet irgendwas!“ Unwillkürlich flüstere ich die Worte meinem Freund Mathias zu, der neben mir am Wasser kniet und unser Geschirr wäscht. Wir halten beide inne und lauschen. „Das ist was Großes“, vermutet Mathias, als das Geräusch erneut durch die Dunkelheit zu uns herüberhallt. Aber die Stirnlampen fangen nur Dunkelheit und Wasser ein. Irgendwie unheimlich, denke ich, und beeile mich, den Abwasch zu erledigen und zurück in unseren warmen Camper zu kommen, der von oberhalb des Strandes zu mir herunterblinkt.

 

Sarah Kringe & Mathias Stöckl

Alter: 34 & 31 Jahre

Wohnort: Heidelberg & Salzburg

Reiseregion: Balkan, Baltikum, Skandinavien

Reisebeginn: Juni 2019

Reisestrecke: > 15.000 Kilometer

Website: thehappyroad.de

Instagram: @the_happyroad

 

Volkswagen T5

Baujahr: 2014

Motor: 1.869 cm3, 140 PS

Verbrauch: 8,1 l/100 km, Benzin

Aufbau: Eigenausbau innen

Schlafplätze: 2

 

Schon seit einiger Zeit fahren wir an der Küste Nordnorwegens entlang, hoch oben in der Finnmark und Troms, wo die Barentssee die baumlosen Klippen umspült und die Berge direkt aus dem Meer wachsen. Seit fast fünf Monaten sind wir unterwegs: Jobs gekündigt, Transporter zum Camper umgebaut, gut gemeinte Warnungen in den Wind geschlagen und losgefahren. Die klassische Vanlifer-Aussteiger-Story. Über den Balkan und das Baltikum sind wir nach Finnland gereist, wo wir den Herbst zwischen Wäldern und an Seen, wandernd und Fahrrad fahrend verbracht haben. Das Nordkap sei unser Ziel, sagen wir, wenn uns jemand fragt, wo wir hinfahren. Aber wenn ich ehrlich bin, geht es uns nicht in erster Linie darum, den nördlichsten Punkt Europas zu erreichen. Oder überhaupt irgend­eine bestimmte Stelle zu erreichen, auch wenn wir im Verlauf unserer Reise viele sehenswerte Orte besucht haben.

 

Der Weg ist unser Ziel

Grense Jakobselv war so ein Ort. Unser erster Übernachtungsplatz in Nord­norwegen hat uns durch seine wilde Schönheit sofort begeistert (das bestens gepflegte Plumpsklo und die gemütliche Feuerstelle haben sicherlich auch ihren Teil beigetragen). Hier sind sich Europa und Russland so nah wie selten sonst, nur ein schmales Flüsschen trennt die beiden voneinander. Für die Ureinwohner kam die Festlegung der Grenze im 19. Jahrhundert so ungelegen, dass sich immer wieder Grenzverletzungen, hauptsächlich von russischer Seite, ereigneten. Um den Konflikt friedlich zu lösen, baute der norwegische Verwaltungsbezirk, zu dem Grense Jakobselv gehört, eine weiße, weithin sichtbare Kirche als „kulturelle Grenzziehung”. So wussten die Fischer auf dem Meer, ob sie sich in russischen oder norwegischen Gewässern befanden.

„Da draußen atmet etwas!”, flüstere ich meinem Freund zu

Die Kirche gibt es noch heute, allerdings ist sie nicht mehr weiß, sondern steht als schlichtes, steinernes Bauwerk neben der Straße, unweit des einzigen Parkplatzes. Von kultureller Grenzziehung kann schon lange nicht mehr die Rede sein, Stacheldrahtzäune, Wachtürme und große Warnhinweise machen es unmöglich, versehentlich die Grenze zu überschreiten. Dazu kommt eine hohe Militärpräsenz. Dank der Tatsache, dass wir in der absoluten Nebensaison unterwegs sind, haben wir diesen Ort fast ganz für uns allein – bis auf das Patrouillen-­Fahrzeug der Grenzpolizei, das am Abend einige Stunden neben unserem Bus parkt. Als wir die Soldaten auf ­einen heißen Tee einladen, erfahren wir, dass dieser Außenposten bei jungen Rekruten sehr beliebt sei. Wegen der wilden Natur, der Ruhe und weil hier nie irgendetwas passiere. Mein Bad in der eisigen Barentssee am nächsten Morgen ist wahrscheinlich das Merkwürdigste, was dieser Ort seit Langem gesehen hat. Und genau deshalb ist er spannend.

 

Auf ihrer Reise im Norden Norwegens waren Sarah Kringe und Mathias Stöckl teils frostigen Temperaturen ausgesetzt

 

Mathias und ich fahren nicht in ­einem kleinen Camper durch die Welt, um irgendwo anzukommen. Wir quetschen uns seit Monaten zu zweit auf drei Quadratmeter, kratzen morgens Eis von der Innenseite der Fenster und zünden bei Minusgraden unseren Hobo Stove an, weil wir neue Erfahrungen machen, außergewöhnliche Menschen treffen und ungewöhnliche Dinge sehen wollen. Reisen ist bei uns Selbstzweck, und auch wenn es ein totales Klischee ist: Der Weg ist unser Ziel. Und die norwegische Küste hat ziemlich viel Weg zu bieten. Seitdem wir über Inari und Kirkenes ans Meer gelangt sind, haben sich unsere Fahrzeiten enorm verlängert – oder die Fahrtwege verkürzt. Unser T5 rollt bisher aber anstandslos alle Fjorde aus, über vereiste Bergstraßen und stürmische Hochplateaus. In Tromsø, dem San Francisco des Nordens mit seinen steilen Straßen, seiner hübschen Altstadt und den eindrucksvollen Lyngenalpen, wären wir allerdings ohne Allradantrieb nicht weit gekommen. Vom Räumen oder Streuen hält man hier ­augenscheinlich wenig, und während wir mit unserem vollbeladenen Camper, auf dessen Dach sich zwei Fahrräder und ganze drei Paar Ski befinden, leicht verkrampft die Hügel hoch- und runterschlitterten, brausen die Einheimischen mit ihren Spikereifen an uns vorbei. „Die scheißen sich nix”, pflegt Mathias, der Österreicher, in solchen Situationen kopfschüttelnd zu sagen, wenn wir angesichts der norwegischen Fahrmanöver in Eis und Schnee große Augen machen.

 

Norwegen, die Antwort auf so vieles

Auf unserem Weg durch das Baltikum und Finnland haben wir im Sommer und Herbst viele andere Reisende getroffen, die von dort kamen, wo wir hinfuhren. Warum wir ausgerechnet im Winter nach Nordskandinavien wollen, werden wir häufig gefragt. Kein Licht, schlechtes Wetter, arktische Temperaturen – nicht unbedingt die idealen Bedingungen für ein Leben in einem kleinen Camper.

Die Antwort gibt, wie so oft, Norwegen selbst. Als ich am nächsten Morgen gerade im Bus sitze und Frühstück mache, klopft Mathias, der draußen Teewasser kocht, plötzlich ans Fenster. „Schau, da hinten!” Er zeigt aufgeregt aufs Meer. Ich brauche ein bisschen, um in all den Blau- und Grautönen auszumachen, was er meint. Dann erklärt sich auch das unheimliche Geräusch von heute Nacht: Durch den Fjord ziehen Wale. Staunend beobachte ich, wie sich ihre Rückenflossen immer wieder aus dem Wasser heben, und ich höre erneut ihr tiefes Schnaufen.

„Schau, da hinten!”, Mathias zeigt aufgeregt aufs Meer

Nach dem Frühstück gehen wir am Strand spazieren, wo uns schon gestern Abend die vielen Skelette riesiger Krabben aufgefallen sind. Die Königskrabben, oder auch Stalinkrabben, einst auf Anordnung des Generalissimus von Kamtschatka in der Barentssee angesiedelt, gelten als Delikatesse. Es dauert nicht lange, bis ich ein lebendes Exemplar erspähe, das träge zwischen den seegrasüberwachsenen Steinen hervorlugt. Mathias und ich schauen uns an und denken in diesem Moment beide dasselbe: Wir hatten schon lange keine Meeresfrüchte mehr.

 

Vor allem zu dieser Jahreszeit trifft man in dieser Region nur auf wenige Menschen

 

Flugs schlüpft Mathias aus seinen Wanderschuhen und stakst durch das niedrige Wasser auf die Krabbe zu. Seine Ankunft reißt das Schalentier aus seiner Lethargie und es versucht, sich plötzlich erstaunlich flink seitwärts in Sicherheit zu bringen. Mathias fischt die riesige braune, mit Stacheln übersäte Krabbe aus dem Wasser und setzt sie auf dem Strand ab. Eine Online-Recherche und die Befragung eines nahegelegenen Angelcamps bestätigen: Es ist erlaubt, die Tiere zu entnehmen und zu verspeisen.

Wenige Stunden später köchelt die Krabbe auf unserem Hobo Stove, auf ­einem Picknickplatz hoch über der Küste mit gigantischer Aussicht auf die Berge und den Fjord. Wir haben unseren größten Kochtopf im Einsatz und müssen trotzdem in mehreren Etappen kochen – so lang sind die Beine der Königskrabbe, die eine Spannweite von bis zu 1,80 Metern erreichen kann, und die wir irgendwie in den Topf hineinfalten. Das Ergebnis ist fantastisch. Kein Wunder, dass die Tiere als Delikatesse gelten, für die exorbitante Preise verlangt werden, denke ich, während ich – die Aussicht genießend – das weiche Krabbenfleisch aus seiner harten Schale löse.

 

Zwischen den seegrasüberwachsenen Steinen lugt eine Königskrabbe hervor

 

 

Zu Fuß zum echten Nordkap

Einige Tage später würde ich ebenfalls sehr viel für eine solche Mahlzeit geben. Wir campen auf der kargen Hochebene des Nordkaps, das Meer liegt steile 300 Meter unter uns. Wir sind am Abend angekommen und haben die Nacht inmitten stürmischer Böen auf dem Parkplatz verbracht. Zu windig und kalt, um sich lange draußen aufzuhalten, saßen wir den Abend im Bus – mit Nudeln und Pesto, dem altbewährten Geht-immer-­Gericht. „Wir sollten den Bus ‚Klaus nennen”, scherzt Mathias irgendwann, „weil es hier drin so klaustrophobisch ist!” Aber Enge hin oder her: Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und gehen zum Nordkap-Globus, der das Ende des (befahrbaren) Kontinents markiert. Wir sind allein, als sich die Sonne ­langsam über die Klippen schiebt und die arktische See beleuchtet. Ein unbezahlbarer Moment, vor allem angesichts der vielen Touristen, die wenig später mit riesigen Bussen von ihren Kreuzfahrtschiffen herangefahren werden und das Nordkap in einen Rummelplatz verwandeln.

Zu dem Zeitpunkt sind wir aber bereits wieder unterwegs, zu Fuß, zum „echten” Nordkap. Die Landzunge Knivskjelodden ist tatsächlich der nördlichste Punkt Europas und muss erwandert werden. Auf dem 18 Kilometer langen Trail begegnen wir so gut wie niemandem und haben eine grandiose Aussicht auf die hohen Klippen des Touristen-Nordkaps, von dem der Globus zu uns herüberglänzt.

Nein, wir sind nicht verrückt, denke ich, als ich schneebedeckt zurück zum Bus komme und mir die Feuchtigkeit von der Mütze klopfe. Es mag vielleicht nicht die angenehmste Reisezeit für Nordnorwegen sein, aber wir würden es trotzdem wieder ganz genauso machen. Wir haben unsere Stellplätze fast immer für uns allein, wir werden nicht von Moskitos geplagt und nichts ist gemütlicher als ein Lagerfeuer, wenn es draußen schön kalt ist. Die Nordlichter, die immer wieder über unserem Bus tanzen, die zauberhafte Winterlandschaft und die Einsamkeit machen die Entbehrungen allemal wett. Und wenn dann richtig Schnee liegt, denke ich und schiele auf das längliche Paket auf unserem Dach, geht’s erst richtig los. 

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