Leser unterwegs: Der Pamir hält mich gefangen

Bereits 1976 machte sich Johannes Härle mit seinem VW Bulli auf den Weg nach Indien, eine Reise über fünf Monate. Zunächst als Geologe und seit fast 20 Jahren als selbständiger Reiseveranstalter, begegnet er anderen Kulturen, Menschen und Abenteuern. Im letzten Jahr erlebte der Aachener mit seinem Volvo sein bislang größtes Abenteuer – die Seidenstraße.

This is for you and makes your thoughts calm!“ Die Tadschikin stellte die Teekanne auf dem Tapchan neben mir ab. Die Hitze und das soeben Erlebte machten mich durstig und ich nahm drei oder vier Tassen des Kräutertees hastig zu mir. Danach schlief ich augenblicklich ein, wer weiß was in diesem Kräutertee alles drin war. Als ich aufwachte, war ich alleine auf dem Tapchan, der traditionellen Kommunikationsplattform. Es war drei Uhr nachmittags. Ich fasste meine Gedanken und erinnerte mich, dass ich eine kurze Mittagspause einlegte und mich mit gekochtem Fleisch, Zwiebelringen und einer fettigen Soße in diesem armselig erscheinenden Restaurant stärkte. Gerade erst zurück auf der Straße, gestikulierten der Koch und andere Gäste wild, ich solle doch anhalten. Ich stoppte, stieg aus meinem Volvo V70 und die Leute umringten eine Stelle am Boden, die ich mir näher anschaute.

Johannes Härle

Alter: 65 Jahre

Wohnort: Aachen

Reiseländer: 14 Länder an der Seidenstraße

Reisedauer: 70 Tage

Reisestrecke: 18.790 Kilometer

 

Volvo V70

Baujahr: 2004

Motor: 2,4-l-Turbodiesel

Verbrauch: 5,2 l/100 km

 

Zwei Ölflecken auf der trockenen Erde, einer mit schwarzem Öl und ein heller Ölfleck. Das schien wohl eine Leckage des Lenkgetriebes zu sein. Ein Blick in den fast leeren Ausgleichsbehälter bestätigte meinen Verdacht: kein Hydrauliköl mehr im Behälter, an ein Weiterfahren ohne Servounterstützung war bei diesen Straßenverhältnissen nicht zu denken. Nun war ich nach über 9.000 Kilometern auf dem Pamir Highway in einer gottverlassenen Gegend gestrandet. Über das Smartphone hatte ich keinen Kontakt zur Außenwelt, ich konnte niemanden erreichen. Afghanistan liegt über dem an dieser Stelle etwa 70 Meter breiten Grenzfluss Panj, Duschanbe, die Hauptstadt Tadschikistans, liegt 500 Kilometer nördlich. Khorog, Hauptstadt der teilautonomen Republik Gorno Badakhshan, liegt etwa 150 Kilometer südlich. Eine Reparatur des Lenkgetriebes hatte mich in Kayseri in der Türkei bereits einen Tag Zeit gekostet und die Erfahrung gelehrt, dass an eine Reparatur hier an Ort und Stelle nicht zu denken war. Ich musste meinen Volvo in eine Werkstatt bringen. Aber wie sollte ich, um Hilfe zu bekommen, Khorog erreichen, wenn die wenigen Fahrzeuge bis auf den letzten Platz mit sieben Personen besetzt waren?

Zwei Ölflecken auf der Erde, kein Hydrauliköl im Behälter

Nach einer knappen Stunde Geduld hatte die Warterei ein Ende. Ein Toyota mit australischem Kennzeichen hielt an. Meine Retter in der Not, Ute und Locky, sind seit mehr als acht Monaten unterwegs und nahmen mich nach kurzer Beratung mit. Locky hatte einen Fahrstil, der ihn meist entlang des äußersten rechten Fahrbahnrandes führte. Teilweise waren es nur wenige Zentimeter, die den Toyota vom steil abfallenden Ufer trennten. So „rasten“ wir über den Pamir, um vor Einbruch der Dunkelheit in Khorog anzukommen. Locky war mit mir einer Meinung, dass in Ermangelung eines Abschleppwagens ein Lkw nötig sein würde, um den Volvo nach Khorog zu schaffen. Es war tatsächlich ein Lkw in Khorog am Sonntag aufzufinden, ein älterer Mercedes Benz der 8er-Serie. Zu dritt, Oshiwa, der das Unternehmen leitete, der Fahrer des Lkw und ich, rumpelten am Spätnachmittag über den Pamir Highway wieder zurück Richtung Pannenort.

Der Highway ist von den Sowjets in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Sicherung der Südgrenze der Sowjetunion gebaut worden. Über 1.500 Kilometer führt dieser von Duschanbe nach Osch in Kirgistan und hat über weite Strecken Ähnlichkeit mit einem schmalen Geröllfeld. Es herrschen extreme Straßenbedingungen, die unter anderem von den bis zu 80 Tonnen schweren Lkw aus China verursacht werden, die nach Duschanbe im Tag- und Nachtbetrieb fahren.

 

Der Pamir Highway führt durch atemberaubende Landschaften, auch Kamele sind immer wieder zu sehen

 

Nächtliche Autobergung

„How far is it?“, fragt Oshiwa, lange nachdem die Nacht die Berge des Pamir silhouettenhaft erscheinen ließ. „I dont know“, erwiderte ich, „maybe one or two hours.“ Die Beine schmerzten, der Nacken steif – körperliche Befindlichkeiten stellten sich ein. Dann ein freudiges Aufatmen, ich sah den Volvo im Scheinwerferlicht vor uns. Der Koch kam freudestrahlend aus seinem Restaurant, das auch jetzt, kurz vor Mitternacht, noch vereinzelte Lkw-Fahrer zur Rast einlud.

 

Während seiner Reise konnte sich Johannes Härle auf die Hilfe anderer Menschen verlassen

 

Nach einer kurzen Stärkung machten wir uns an die Arbeit, Autobergung unter dem Sternenhimmel. Vereint schoben wir den Volvo parallel neben den Lkw. Oshiwa zog das Gurtband, mit dem der Volvo hochgezogen werden sollte, durch die vorderen und hinteren Fenster. Der Gurt wurde über den Kranhaken geworfen und der Fahrer startete den Hebevorgang. Der Gurt straffte sich, der Volvo wurde leicht angehoben. Aber jetzt, da die Last über den Gurt lief, rutschte der bei den Vorderfenstern nach hinten. Der Volvo hob sich dadurch nur noch hinten und stieß mit der vorderen Stoßstange auf die Erde. Das Gewicht von zwei Tonnen lastete nur auf den beiden Türrahmen der Fond­türen. „Stopp!“, rief ich und machte deutlich, das Fahrzeug sofort wieder abzusenken, um Schäden an den Türen zu vermeiden. Der Bergeversuch war nach 15 Stunden kläglich gescheitert.

 

Vom Regen in die Traufe

Wir brauchten unbedingt Holzbohlen und Öl für die Servolenkung, beides wollten wir in Khorog besorgen, und machten uns auf den Weg zurück durch die Nacht. Plötzlich lenkte der Fahrer den Lkw auf die Seite und stellte den Motor ab. Der Keilriemen war gerissen. Oshiwa meinte, die Reparatur könnten sie selbst durchführen, bräuchten hierzu aber Tageslicht. Bei erstem Tageslicht machten sich die beiden daran, den Keilriemen zu wechseln. Nach einer halben Stunde stellten sie plötzlich ihre Montagearbeit ein. Oshiwa erklärte, dass eine festsitzende Mutter ihnen Probleme mache, für die sie keinen passenden Schlüssel hätten.

Plötzlich blieb der Wagen stehen. Der Keilriemen war gerissen.

Oshiwa und der Fahrer montierten alles wieder zusammen und wir fuhren ohne Keilriemen die wenigen Kilometer zu einer Werkstatt, die mit einem Werbeschild auf sich aufmerksam machte. Der Besitzer der Werkstatt half mit Werkzeugen aus, die Arbeit machte Fortschritte. Dann die Enttäuschung – der Keilriemen passte nicht. Während Oshiwa und der Fahrer sich aufmachten, um einen Ersatzkeilriemen zu beschaffen, folgte ich der Einladung des Besitzers zum tadschikischen Frühstück. Auf dem Tapchan wurden die Schlafdecken der letzten brachte getrocknete Aprikosen, Maulbeeren und Aprikosenkerne. Jeder bekam eine große Tasse mit Chilitee und verfeinerte diesen mit der bereitgestellten Butter. Buttertee und Fladenbrot, das tägliche Frühstück in Badakhshan.

Zurück auf dem Pamir Highway gelang es uns, trotz eines erzwungenen mehrstündigen Stopps durch Militärbewegungen, am frühen Nachmittag den Pannenort zu erreichen. Wir hatten in wenigen Kilometern Entfernung davor eine Böschung gesehen, die geeignet erschien, über diese direkt auf die Pritsche des Lkw zu fahren. Hydrauliköl aufgefüllt, Motorölstand geprüft, aber welch ein Schreck, der Ölpeilstab zeigte kein Öl im Motor an. Daher rührte also der schwarze Ölfleck. Die letzten drei Liter Motoröl, die ich mitführte, sollten für die letzten fünf bis sieben Kilometer bis zur Böschung ausreichen. Das Glück kehrte zurück und wir schafften es, den Volvo über die Böschung hinweg zu verladen. Wir lachten uns gegenseitig an, stolz, das fast nicht mehr Geglaubte erreicht zu haben. Khorog erreichten wir nach 37 Stunden am Montagabend gegen 22 Uhr.

 

Die Stadt Khorog liegt im Süden Tadschikistans und grenzt an Afghanistan

 

Wettlauf mit der Zeit

„Da müssen Sie wohl über das Matterhorn gefahren sein“, sagte mir Herr ­Hayder, der deutschsprechende Werkstattleiter in Khorog am Tag darauf. Er zeigte mir die Ölwanne, die einen fünf Zentimeter langen Riss aufwies. Er hätte noch eine Elektrode, um die Aluwanne zu schweißen, wusste aber nicht ob er ­damit hinkommen würde. Freitagnachmittag und es war immer noch keine positive Antwort von Hayder da. Die Ölwanne konnte nicht komplett geschweißt werden und wurde nach Duschanbe gebracht. Planmäßig sollte diese dann heute wieder in Khorog eintreffen. Aber großes Rätselraten herrschte nun, wo die Ölwanne geblieben war. Wie heißt ein tadschikisches Sprichwort: „Es ist vieles möglich, nur wann?“ Neben der Unsicherheit, wie es um das Lenkgetriebe bestellt war, kam nun die weitere Ungewissheit, wann die Ölwanne eingebaut werden konnte. Die Zeit drängte, schon bald würde mein russisches Transitvisum für die Rückreise ablaufen.

Ein tadschikisches Sprichwort lautet: „Es ist vieles möglich, nur wann?“

Ich saß fest. Doch meine Unbeweglichkeit erhielt eine spannende Note. Schamanenklänge und dumpfe Trommelschläge klangen durch die Nacht und versetzten mich in einen halb­trancenen Zustand. Das dreitägige „Roof of the World Festival“ hatte begonnen und Folklore- und Musikgruppen wetteiferten um die Gunst der Festivalbesucher. Mit Akteuren aus fünf Ländern mitten im und um den Pamir wurde der Spannungsbogen zwischen traditioneller und experimenteller Musik gespannt. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, das Wochenende stand ganz im Zeichen des Events.

Dann, nach zweieinhalb Wochen der Ungewissheit, erhielt ich den Anruf von Hayder, dass die Ölwanne montiert und das Lenkgetriebe ausgebaut sei. Er erklärte mir die Leckage am Lenkgetriebe. Die Ölleitung war in der Türkei schräg eingeschraubt worden, dabei waren einige Gewindegänge zerstört worden. Die Neuverschraubung unterstützte er mit der Zugabe eines Karosserieklebers. Sicherlich eine suboptimale Lösung, aber eine gut durchdachte. Am späten Nachmittag konnte ich den Volvo abholen.

Vor mir lag nun der höchste Pass auf dem Pamir Highway, der 4.655 Meter hohe Ak-Baital-Pass, den es zu bewältigen galt. Froh und glücklich, über die schicksalhaften Begebenheiten wieder in meinem nun fahrbereiten Volvo zu sitzen, machte ich mich auf den Weg in die Ungewissheit. Über die Pamir-Pässe hinweg und mit dem Sound von Bob Dylans „Together through life“ lachte das Leben mir zu, den Pamir zusammen mit dem Volvo bezwungen zu haben. 

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