Scheinbar unendlich – Leser unterwegs am Amazonas

Familie Armsen möchte eine Auszeit von ihrem alltäglichen Leben - dafür zieht es sie in die beeindruckenden Gebiete des Amazonas

Amazonas

Brummi

Basis: Mowag Duro 2, 6×6
Baujahr: 2006
Motor: 5.900 cm3, 185 PS (Cummins)
Verbauch: 28 l/100 km
Aufbau: WM-Meyer mit Eigenausbau
Schlafplätze: 4
Leergewicht: 6.600 kg
Gesamtgewicht: 7.500 kg (derzeit: eher 8.500 kg)

 

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Emil, Rallo, Sabine & Tino Armsen

Sabine und Rallo Armsen sind mit ihren Zwillingen seit Januar 2018 in Südamerika unterwegs. Sie Filmemacherin, er Industriekletterer, wollten aus ihrem durchgetakteten Leben zu Hause ausbrechen und sich bewusst Zeit nehmen. Zeit für neue Erlebnisse und Erfahrungen – und vor allem Zeit für ihre Kinder.

Alter: 50, 46, 5 & 5
Wohnort: München
Reiseländer: Südamerika
Reisedauer: 15 Monate (geplant)
Reisestrecke: 23.000 Kilometer, bislang

 

Nach Manaus? Im Wohnmobil? Mit kleinen Kindern? Das sei verrückt, gefährlich und nahezu unmöglich, ist der ­diensthabende Polizist überzeugt. Wir stehen im Hauptquartier der Straßenpolizei von Porto Velho und erkundigen uns nach den aktuellen Bedingungen. Hier beginnt die berüchtigte Piste BR-319, ein Teilstück der Transamazonica. Sie führt etwa in Nord-Süd-Richtung über knapp eintausend Kilometer durch den größten und wildesten Regenwald der Erde. Doch das Wort „Wohnmobil“ ist ­eigentlich nur die halbe Wahrheit. Also ­gehen wir vor die Tür und zeigen den Polizisten unseren Mowag Duro 6×6, der vor ihrem Fenster parkt. Als die Beamten merken, dass wir es wirklich ernst meinen, ­telefonieren sie mit einem ihrer Straßen­posten und geben dann grünes Licht. Es würde schon gehen, heißt es, es regne derzeit weniger als sonst um diese Jahreszeit.

Der Ruf der Wildnis ist stärker als jede Vernunft

Um Regen dreht sich hier alles, denn der entscheidet über Gedeih und Verderb auf dieser extremen Passage. Dieser Lebensraum heißt nicht umsonst Regenwald, und selbst jetzt, in der Trockenzeit, kann ein tropischer Niederschlag die Piste binnen Stunden in ein Schlamm-Inferno verwandeln. Mit Schaudern bestaunen wir seit Wochen die von dieser Route kursierenden Bilder: Fahrzeuge, die bis zum Führerhaus im Matsch stecken, oder unter den Resten von maroden Holzbrücken liegen, in von Piranhas wimmelnden Flüssen. Aber egal. Der Ruf der Wildnis ist stärker als die Vernunft und wir lenken unseren Brummi – so hatten unsere Zwillinge Tino und Emil unser Gefährt getauft – in Richtung Abenteuer. Wir haben genug Lebensmittel und Wasser gebunkert, um einen Monat auf Rettung warten zu können, falls wir doch einmal stecken bleiben sollten.

 

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Auch in der Trockenzeit kann sich die Lehmpiste schnell in ein matschiges Inferno verwandeln

 

Aber das Abenteuer lässt zunächst auf sich warten. Die BR-319 beginnt mit astreinem Teerbelag, der am zweiten Tag in eine gepflegte Piste übergeht. Noch sind wir im Dunstkreis der letzten Ansiedlungen. Wo Menschen nicht weit sind, brennt immer wieder der Urwald. Links und rechts der Straße erstreckt sich ein Streifen von Palmplantagen und Viehweiden, Rauchwolken und Asche. Am dritten Tag, nach etwa dreihundert Kilometern, ändert sich das Bild. Primärwald schließt sich zum schier unend­lichen grünen Teppich, unterbrochen nur noch von der roten Schneise der Lehmpiste. Von der Straße aus können wir nicht weit sehen, aber die Vogel­perspektive unserer Kameradrohne offenbart Regenwald bis zum Horizont, in alle Himmelsrichtungen. Ein atemberaubender Anblick. Und einer, der mir die Hoffnung gibt, dass einiges doch noch in Ordnung ist, im wohl wichtigsten ­Lebensraum unserer Erde.

Im dichten Urwald ist es schwierig, abends einen Standplatz zu finden. Als wir nach langer Suche auf einer lehmigen Freifläche parken, merken wir plötzlich, wie exponiert wir hier stehen: kreuz und quer verlaufen frische Spuren von einem ausgewachsenen Jaguar. Jetzt erinnere ich mich wieder, dass die BR-319 von den Einheimischen auch die „Jaguar-Route“ genannt wird. Heute Abend essen wir lieber drinnen, und ­heben die pinkelfreie Zone von zehn Metern rund um unser „Haus“ (das ist nötig, sonst würden unsere Jungs am liebsten die Reifen markieren) ausnahmsweise einmal auf. Bis Mitternacht suchen wir aus dem sicheren Fenster heraus nach reflektierenden Raubkatzenaugen im Taschenlampenlicht. Doch ­obwohl ich es mir heimlich wünsche, lässt sich der Jaguar nicht blicken.

Amazonas
Abenteuer Dschungel: Ob sich die Kinder an diese einmaligen Erlebnisse eines Tages noch erinnern werden?

 

Jeden Tag bewundere ich den ­kleinen blauen Punkt auf der Satellitenkarte. Wo wir uns hier bewegen, ist einfach irrwitzig. Vor ein paar Monaten wusste ich noch gar nicht, dass man Amazonien mit dem Auto durchqueren kann. Inzwischen haben wir den entlegensten und übelsten Teil der Piste ­erreicht, hunderte Kilometer entfernt von den nächsten Städten. Schlaglöcher beeindruckenden Ausmaßes und tiefe Fahrrinnen, die von nasseren Zeiten künden, lassen uns nur langsam vorwärts kommen. Wir fahren mit Fontänen aus rotem Schlamm durch riesige Matsch­pfützen. Nachmittags türmen sich gigantische Wolkengebirge über dem Regenwald und drohen damit, ­unser Wagnis mit einem Guss der Superlative zu beenden. Doch außer ein paar Tropfen kommt nichts bei uns an. Die Piste ist meist trocken und wir haben keine ernsthaften Probleme. Fast sind wir ein bisschen enttäuscht, als nach sechs Tagen die ersten Siedlungen
auftauchen und nach und nach der Asphalt vom Näherrücken der Zivilisation zeugt. Ganz ohne Festfahren, Schaufeln und Winschen quer durch Amazonien? Das hatten wir uns anders ausgemalt.

 

Amazonas
Auf Tuchfühlung mit Flussdelfinen kann man nur im Herzen von Amazonien gehen

 

Eine Woche und eintausend Kilometer später dann der große Moment: wir erreichen den Amazonas. Die Sonne steht tief und das Wasser reflektiert das dramatische Rot. Zum ersten Mal im ­Leben den mächtigsten Strom des Planeten mit eigenen Augen zu sehen, ist für mich überwältigend. Wie so oft auf dieser Reise frage ich mich, ob die Kinder sich wohl auch an diesen Augenblick erinnern werden.

 

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Auf einem Stellplatz entdecken wir die ­Spuren eines ausgewachsenen Jaguars

 

Auf einer Fähre setzen wir über nach Manaus. Die Millionenmetropole lässt uns fast vergessen, dass wir immer noch im Herzen Amazoniens sind. Wir essen Eis vor dem wunderschönen, aber ­irgendwie verrückten Opernhaus, für das die Kautschukbarone alle Materialien außer Bauholz aus Europa kommen ließen, vom güldenen Wasserhahn bis zum Plüschpolster. In der Umgebung gibt es viel zu unternehmen. Wir wandern im dampfenden Dschungel und schwimmen durch geflutete Wälder im teefarbenen Wasser, essen geröstete Ameisen mit den Indígenas, rollen einen Flummi aus selbst gezapftem Kautschuk und düsen mit Booten durch das verzweigte Labyrinth des Rio Negro. Mein persönliches Highlight: wir schwimmen mit den seltenen rosa Flussdelfinen. Sie sind größer, als ich dachte. Die zwei ­Meter langen Tiere kommen bis auf Tuchfühlung heran, sodass unsere Kinder quietschen und dann doch lieber schnell wieder auf den Steg klettern.

Den mächtigsten Strom der Welt zu sehen, überwältigt

 

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Sonnenuntergang über dem Amazonas. Eine Region, die von Overlandern nur selten angesteuert wird

 

Die nächste Etappe legen wir auf dem Wasser zurück. Wir schiffen uns ein auf einem Transportfloß mit Kurs auf Belém an der Amazonasmündung. Es wird die wohl gefährlichste Zeit auf unserer Reise. Nicht wegen Raubtieren oder Treibsand, Kriminalität oder giftigem Krabbelzeug, sondern wegen einer fehlenden Reling. Das stählerne Ponton ist bis zum Rand mit Lkw und ­Containern vollgestellt, wir dürfen mit bester Aussicht und frischem Fahrtwind ganz ­vorne parken. Drei Meter vor unserem Brummi hört das Floß einfach auf, ohne Schwelle oder Geländer. Wer vorne über Bord geht, gerät unter das 30 Meter breite und 100 Meter lange Ponton. Unrettbar! Ein Alptraum für Eltern von energiegeladenen kleinen Buben, die noch nicht schwimmen können. Rallo und ich haben uns vorher lange überlegt, ob wir das wagen sollen und wie ein belastbares Risikomanagement aussehen könnte. Wir schwören uns, während der sechs Tage Flussfahrt die Kinder niemals aus den Augen zu lassen und ihnen eine „rote Grenze“ abzustecken. Trotzdem habe ich Angst und schlafe schlecht in der Nacht vor der Abfahrt.

1.600 Kilometer reisen wir auf dem Amazonas flussabwärts

Wider Erwarten wird es eine der schönsten und entspanntesten Etappen der Reise. Die Kinder halten sich mustergültig an die „Grenze“: wir haben einen Bergegurt gespannt, der die sichere Zone markiert. Wir freunden uns an mit einem Dutzend brasilianischer Fernfahrer, die mit ihren Lkw auch nach Belém unterwegs sind. Das hilft – viele Augenpaare achten darauf, dass sich kein Kind an die verbotenen Ränder des Pontons vorwagt.

 

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Dschungel und Piste, so weit das Auge reicht. Ein Rest heile Welt?

 

Wir entspannen in unseren Hängematten zwischen den Containern, knacken säckeweise frische Paranüsse und besuchen oft den Commandante auf dem 800-PS-Schiff, das unser Floß vor sich herschiebt. Tino und Emil lieben ihn, denn er überlässt ihnen ab und zu das Steuer. Aber für mich ist das Beeindruckendste: Tag und Nacht zieht unter uns, ruhig und majestätisch, der Amazonas hindurch. Und so legen wir über 1.600 Kilometer zurück, ohne ein einziges Mal aufs Gaspedal zu treten.

Auf halber Strecke kommen zwei mit Gewehren bewaffnete Sicherheitsleute an Bord. Sie sollen uns vor Piraten­überfällen schützen, denn immer wieder werden ganze Pontons gekapert. Nach vier Tagen erreichen wir das Flussdelta. Hier fächert sich der Hauptstrom in viele Flussarme auf. Die Fahrrinne wird ­schmal, kreuzende Fischerboote und ­reger Gegenverkehr forden die ganze Aufmerksamkeit der Crew, vor allem nachts. Plötzlich ein Rumms, und alles wird still. Unser Floß ist auf Grund gelaufen! Doch niemand regt sich groß auf. Wir sind schon im Einflussbereich der Gezeiten des Atlantiks. Als nach ein paar Stunden die Flut wieder einsetzt, kommen wir zügig frei. Es geht vorbei an Stelzenhäusern, Fischerbooten und Kindern in Kanus.

 

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Von Manaus nach Belém geht es an Bord einer Barge, sechs Tage lang ziehen rechts und links die Ufer des Amazonas vorbei, während die Familie ausspannt und sich mit Crew und Truckern anfreundet

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Unvermittelt mündet der Fluss in ­eine weitläufige Meeresbucht. Langsam kommt der Frachthafen von Belém in Sichtweite. Für uns geht das Abenteuer Amazonien hier zu Ende. Ein bisschen wehmütig verlassen wir das Ponton und unsere neuen Truckerfreunde. In Gedanken aber küsse ich den dreckigen Hafenboden als wir von Bord gehen und danke allen kosmischen Mächten, dass alles gutgegangen ist.

 

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