Zeit für Wünsche

Baumängel am Expeditionsmobil - Kommentar

Die Szene der Allrad-Globetrotter dreht sich auf Hochtouren. Doch dem Höhenflug kann die Katerstimmung folgen, an vielen Fronten. Kommentar

(msk) Was sind wir derzeit alle aus dem Häuschen. Nicht nur im übertragenen Sinne, auch im wörtlichen. Outdoor, Offroad, Freizeit – Globetrotten ist so in wie schon lange nicht mehr. Die Zulassungszahlen von Reisemobilen klettern und klettern, gemeinsam mit den Besucherzahlen der Messen, in immer neue Höhen. Es gibt so viele abenteuerlustige Camper in Europa, auf Island reichen schon nicht mehr die Campingplätze und Toiletten. Es mussten Schilder aufgestellt werden, wo die Notdurft in der freien Natur bitte nicht zu verrichten ist. Der Trick mit den absurd hohen Mietwagen- und Fährkosten hat ja offenbar nicht funktioniert, um die Touristen fernzuhalten. Kein Wunder: Wenn der Markt so finanzstark ist, dass auch 2018 kein Hersteller den Bedarf sah, einmal ein Reisefahrzeug für budgetorientierte Kunden zu entwickeln, de facto ein reisefertiger Allrad-Neuwagen mindestens die 80.000-Euro-Hürde nimmt und üblicherweise eher die 100.000-Euro-Schallmauer sprengt, dann wird es an den paar Euros für eine standesgemäße Tour auch nicht mehr fehlen.

Nun, im Glashaus zu sitzen und mit Steinen zu werfen, das war noch nie eine besonders schlaue Idee. Auch der EXPLORER profitiert von der Gier auf Abenteuer und hat mittlerweile mehr Abonnenten, als alle anderen Allrad-Publikumsmedien. Doch mit dieser hohen und engen Leserbindung wächst auch das Bewusstsein für die Missstände der Szene. Es erreichen uns Zuschriften unglücklicher Kunden, verunsicherter Reisender, frustrierter Einsteiger. Die Erzählungen von um Monate überzogenen Lieferterminen, teils eklatanten Fertigungsmängeln, absurd langen Wartezeiten, immer weiter steigenden Preisen und zunehmend verhaltensauffälligen Individual-Auto-Touristen spiegeln dabei die Erfahrungen wider, die auch wir in unserer täglichen Arbeit machen. In einer Branche, in der das Geld ziemlich locker sitzt und in oftmals dicken Bündeln steckt, scheint es vermehrt in die falsche Richtung zu gehen. Service, Kundenfreundlichkeit und Termintreue bleiben auf der Strecke, dem folgen Qualität und zuletzt dann der Anstand. So etwas kann nur passieren, wenn auch auf der anderen Seite ein gewisser Hang zum Masochismus vorhanden ist. Wenn man als Kunde akzeptiert hat, für eine Dachluke 1.500 Euro zu bezahlen, die frühestens in zwei Monaten lieferbar ist. Wenn die Übergabe des neuen Campers drei Monate später als vereinbart erfolgt, man sich aber vertraglich dazu bereit erklärt hat, dennoch keine Ansprüche zu stellen. Wenn man akzeptiert hat, dass der Vertragspartner das Handwerk, das er gerade zum teuren Preis auf dem bunten Messestand verkauft, nie in einer Ausbildung oder einem Studium erlernt hat. Man stelle sich vor, diese Denkweise würde bei der Buchbestellung bei Amazon oder beim Bau des Hauses angelegt. Was wären das für paradiesische Zeiten für Scharlatane jeder Couleur. Doch als Overlander ist man per Du und irgendwie vom selben Schlag, da geht das schon.

Aber: geht das wirklich? Wenn wir beim Test von Fahrzeugen Bauschaum in Karosserieholmen entdecken, sehen, wie ein Kabel am einen Ende dreiadrig ist, am anderen aber fünfadrig, erfahren, dass nicht einmal der Zusammenbau eines Motors fachgerecht erfolgt, Mechaniker vergessen, ganze Bremskreise wieder anzuschließen, Hersteller komplette Autos aufbauen, ohne einmal vorab ein Gewichtsprotokoll anzufertigen, andere mehr Argumente für Höherlegungen und dicke Reifen haben, als für ihre Hilfsrahmen-Konstruktionen, die jeglichen Richtlinien widersprechen, das Wort „Leichtbau“ auf jeder nicht allzu überladen konstruierten Box als zusätzliches Verkaufsargument prangt, Neufahrzeuge schon beim Anblick von Gelände ins Notprogramm fallen, dann wird offensichtlich: hier gerät langsam etwas in Schieflage.

Es ist ein tolles Gefühl und eine wunderbare Sache, Teil einer wachsenden Bewegung zu sein. Als langjähriger Wassersport-Redakteur kenne ich das auch anders herum, schaute zu, wie der Nachwuchs ausblieb, die Yachthäfen vereinsamten, Messen verschwanden, eine ganze Branche schrumpfte. Aber ich lernte auch einen Markt kennen, der hochprofessionell agiert. Wo der Einsatz eines Ingenieurs oder Konstrukteurs Alltag ist, das Angebot vom Einsteiger bis zum Könner jede Facette und jeden Preisbereich abdeckt, die abgelieferte Qualität auch in den einfachen Preiskategorien selten Anlass zu Tadel gibt. Ich will es an einem Beispiel konkretisieren: Der Verlust eines Kieles ist bei einer Segelyacht der wohl größte annehmbare Schaden, gleichzeitig sind die hier auftretenden Kräfte eminent. Aber trotz hunderten Neubauten pro Jahr – mehr als ein Kielverlust jährlich wird kaum dokumentiert. Und beim Zwischenrahmen eines Fernreisemobils, kaum weniger relevant für die strukturelle Integrität des Fahrzeuges? Hier sind Risse, Brüche und Schäden bittere Realität. Hätten Yachten eine vergleichbare Mängelquote – niemand wagte sich mehr aufs Wasser.

Gilt für Yachten zumindest die sogenannte CE-Zertifizierung, die grundlegende Konstruktions- und Ausrüstungsvorgaben festlegt, kann beim Individual-Fahrzeugbau jeder alles zusammenstecken, was der Sachverständige bei TÜV und DEKRA abzunehmen gewillt ist. Und wenn nicht dieser, dann ein anderer. Alles Argumentationssache, also auch, wenn man die Rahmenlagerung im Obergurt verbolzt. Offenbar kann man es ja einmal versuchen. Wie schön wäre es, gäbe es auch für Landyachten eine klare Zulassungsrichtlinie mit Entwurfskategorien von A bis D. Was bei der Segelyacht die Tauglichkeit von Hochsee bis Binnensee anhand klarer Fakten reglementiert, wäre auch im Fahrzeugbau ein Segen für den Käufer. Softroad oder Offroad? Man hätte die Wahl, und zwar anhand klar greifbarer Tatsachen. Solange es die nicht gibt, werden sich auch noch in 15 Jahren Gerichte mit der Frage befassen, ob ein Allrad-Auto nun „artgerecht gehalten“ wurde, oder nicht.

Klar ist: das würde die Sache noch einmal teurer machen. Aber wenn ohnehin bei den Preisen schon Hopfen und Malz verloren ist, wäre es ein Schritt in die richtige Richtung. Denn dann würden auch die Phantasiepreise im Gebrauchtwagenmarkt der Vergangenheit angehören – so wäre über diesen Umweg den Neueinsteigern der Weg zum bezahlbaren Fahrzeug geebnet. Dass dieser Zugang noch einmal von Herstellerseite beschritten wird, dürfte ein Traum bleiben. Clevere Innenausbauten mit hohem Gleichteile-Anteil, preiswerte Baustoffe, smarte Aufbaukonzepte – hier wagt sich niemand aus der Deckung, der nach Arbeitsstunden abgerechnete Individualkunde ist der lukrativere Weg. Solange diese Schlange stehen, ist das nicht einmal ein verwerflicher Zug. Und sie werden noch eine Zeitlang Schlange stehen. Der Aufbau von Neufahrzeugen wird für Privatleute von Jahr zu Jahr schwieriger und komplexer, immer mehr Regeln sind einzuhalten.

Und was lernen wir daraus? Augen auf! Firmen, die in fünf Jahren nicht in die Röhre schauen wollen, weil die letzten Babyboomer mit ihren Luxuslastern endgültig in die Welt hinausgefahren sind, sollten sich schon jetzt Gedanken darum machen, wie man die Folge-Generation bedienen kann. Die Generation X nämlich ist zwar nicht minder reiselustig, das Gleiche gilt für die „Millennials“, doch steht ihnen nicht mehr das dicke finanzielle Polster einer konsequent angesparten Altersvorsorge zur Verfügung. Stattdessen wird schon früher gelebt und konsumiert, das vorhandene Budget auf verschiedene Interessen verteilt. 250.000 Euro für einen Reise-Offroader? Wohl eher keine Option. Aber mieten, teilen, selberbauen – das wäre doch was. Doch egal, wo man landauf, landab hinschaut: Es gibt keine Selbsthilfe-Werkstatt für angehende Globetrotter, kaum Anlaufstellen für wirklich budgetorientierte Käufer. Hier liegt ein Markt brach, den sich bislang – wenn überhaupt – vor allem Bastler, Blender und Scharlatane untereinander aufteilen. „Preiswert“, das beinhaltet auch das Wort „Wert“. Auf den Overlander-Bereich übertragen, kommt hier meist nur „billig“ heraus – und zwar nicht monetär betrachtet, sondern viel zu oft qualitativ.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Welt wäre ein dunklerer Ort, gäbe es in der Szene nicht auch viele leuchtende Gegenbeispiele. Familienbetriebe, die jede Arbeit liegenlassen, um einem Kunden zu helfen. Unternehmen, die erst dann mit ihrer Arbeit glücklich sind, wenn die Qualität bis ins Detail stimmt. Reklamationsfälle, die zügig und mit Bravour bedient werden. Kundenservice, der sich herumspricht, versierte Fachleute, vor denen man den Hut zieht. Dinge, über die wir uns freuen, im EXPLORER berichten zu können. Und doch werden wir die beschriebene Entwicklung zum Anlass nehmen, noch genauer hinzusehen. Trends zu hinterfragen, gute Leistungen noch deutlicher hervorzuheben, aber auch dort stärker den Finger in die Wunde zu legen, wo es hapert.

Auf unserem Wunschzettel stehen Drei Dinge: Mehr Innovation. Mehr Preisbewusstsein. Mehr Selbstkritik. Auch wir werden uns bemühen, diese Wünsche zu erfüllen.

EXPLORER - Ausgabe 2019-01
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