Fremde Sprache, unbekannte Kultur, ungewohntes Klima und eine exotische Küche zeigen einem in Südamerika jeden Tag aufs Neue, dass man seine eigene Komfort-Zone verlassen hat. Doch irgendwann werden die zu Beginn noch aufregenden Erlebnisse zum normalen Reisealltag. Damit in der Erinnerung die vielen neuen Eindrücke nicht zu einem Einheitsbrei verschwimmen, sollte man ab und zu das Besondere suchen. Das kann eine lange Wanderung sein, ein intensiver Kontakt mit Einheimischen, ein Sonnenaufgang an einem magischen Ort, für den man extra mitten in der Nacht aufgestanden ist. Zumindest sind das für mich Glücksmomente, von denen ich lange zehre.
Das i-Tüpfelchen kann auch der Besuch eines speziellen Festes sein – denkt man an „Lateinamerika“ und „feiern“, kommt einem schnell der Karneval in den Sinn. Allen voran der größte Karneval der Welt: in Río de Janeiro. Auch wenn man selbst noch nie vor Ort dabei war, hat jeder die Bilder der leichtbekleideten, langbeinigen Schönheiten in aufwendig gestalteten Kostümen vor Augen, die sich im Sambodrom zu rhythmischer Sambamusik bewegen und damit bis zu 88.000 Zuschauer auf den Tribünen begeistern. Auf der etwa 700 Meter langen Tribünenstraße treten die besten Sambaschulen gegeneinander an, mit bis zu 6.000 Tänzerinnen, Tänzern und Musikern, die von einer Jury bewertet werden. Und wer nicht direkt dabei sein kann, schaut sich das bunte Spektakel im TV an. Landesweit, live.
Nicht nur im Sambodrom geht die Post ab, sondern auch auf den „Blocos”, den traditionellen Straßenfesten. Es gibt „Blocos”, auf denen sich mehr Jugendliche tummeln, auf anderen treffen sich Homosexuelle, doch eines haben sie alle gemeinsam: Es wird ausgelassen getanzt, noch ausgelassener getrunken und die Kleidung auf ein Minimum reduziert. Seit einigen Jahren gehört auch das Küssen von fremden Menschen dazu. Und zwar nicht nur einen, nein, viele haben sich zum Ziel gesetzt, so viele Männer oder Frauen wie möglich zu küssen. Bei genug Caipirinha und Bier im Blut, kann daraus auch schnell mehr werden. Mittlerweile verteilt die Regierung an den Karnevalstagen allein in Río über 55 Millionen Kondome.
Rio und der Rest der Welt
Seit 2003 hat die UNESCO den Karneval von Barranquilla im Norden Kolumbiens auf die Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit” gesetzt. Die Stadt Barranquilla, Geburtsort von Sängerin Shakira, ist weitaus weniger hübsch als das westlich gelegene Cartagena, doch in der Faschingszeit definitiv eine Reise wert. Hier wird hauptsächlich an drei Tagen gefeiert: In den Morgenstunden des ersten Tages beginnt die „Batalla de Flores”, die Blumenschlacht, ein großer, bunter Umzug, der von der Königin angeführt wird.
Viele Umzüge ähneln in gewissem Maße dem Fasching in Deutschland. Man verkleidet sich und nicht zuletzt fließt politische Satire in das Geschehen ein. Am dritten Tag endet das große Fest mit dem Begräbnis des Joselito Carnaval. Man trägt die Hauptfigur des Karnevals zu Grabe, um sie ein Jahr später wieder auferstehen zu lassen. Der zweite von der UNESCO zum kulturellen Erbe der Menschheit erklärte Karneval ist der in Oruro, Bolivien. Er hebt sich von den klassischen Karnevalsfeiern ab, weil er aus der Verschmelzung des Christentums mit der präkolumbischen Religion der indigenen Völker des Hochlandes von Bolivien entstanden ist und so eine komplett neue Figurenwelt geschaffen hat, die man sonst nirgendwo in dieser Form findet.
In Oruro wird Karneval hauptsächlich zu Ehren der Jungfrau der Bergwerksstollen gefeiert, der „Virgen del Socavón”. Hier beginnen die Feierlichkeiten bereits am Gründonnerstag mit Tänzen zu Ehren der „Pachamama”, der Mutter Erde. Die indigene Bevölkerung dankt für die Ernte und bittet um gute Ernten im kommenden Jahr. Am Samstag startet dann der eigentliche Karneval mit bis zu drei Kilometer langen Umzügen, tanzend bahnt man sich den Weg vom Busbahnhof bis zur Kirche. Offiziell ist an diesem Tag Alkoholkonsum verboten. Was man am Samstag nicht getrunken hat, wird dann aber am Sonntag wieder nachgeholt. Am Sonntag tanzen die Bolivianer für den „Dios Momo”, den Spaß-Gott, die Stimmung ist locker und ausgelassen. Am Rosenmontag folgt mit der „Diablada” der eigentliche Höhepunkt. Der inszenierte Kampf Gut gegen Böse ist einer der speziellsten und prächtigsten Tänze im ganzen Land. Die Tänzer tragen furchteinflößende Masken, die Teil eines aufwendigen Kostüms sind. Das Gute wird durch den Erzengel Michael dargestellt und das Böse durch Luzifer persönlich, den Teufel. Ein typisches Beispiel für Synkretismus, der Verschmelzung der katholischen Religion mit dem traditionellen Glauben der indigenen Bevölkerung.
Neben Bier fließt auch das Nationalgetränk Singani, ein Weinbrand, oder der Chuflay, ein Mixgetränk aus Singani und Ginger-Ale oder Sprite, in rauen Mengen – trinken bis zum Umfallen wird hier durchaus wörtlich genommen. Die Menschen taumeln einige Male bedenklich nach vorn und zurück, bis sie plötzlich einfach umfallen, um an Ort und Stelle ihren Rausch auszuschlafen.
Rituale abseits des Kostüms
Auch zwischen Peru und Ecuador gibt es Tänze und Umzüge, hier wird beides auch immer zu einer sehr feuchten Angelegenheit. Niemand bleibt trocken, wenn auf den Straßen der karnevalistische Ausnahmezustand herrscht: Kleine und große Kinder freuen sich diebisch, wenn sie Passanten oder sich gegenseitig mit Wasserbomben oder Wasserpistolen nassspritzen können. Manchmal wird Wasser gar eimerweise ausgeleert und seit einigen Jahren wird auch gern mit Sprühschaum hantiert.
Das wurde mir bei der letzten Tour fast zum Verhängnis, als wir an einem Umzug vorbeifuhren. Wir blieben im Wohnmobil sitzen, hatten aber die Scheiben geöffnet, um besser fotografieren zu können. Während meine Kollegin den Camper steuerte, hatte ich den Laptop auf den Knien. Ich fotografierte die Menge mit dem Teleobjektiv und merkte erst, als ich die Nässe auf den Knien spürte, dass die Tastatur meines Computers in diesem weißen Schaum ertrank. Es folgte eine Trockenleg- und Fönaktion und ich war sehr erleichtert, dass mein wichtigstes Arbeitsgerät keinen Karnevals-Koller erlitten hatte.
Erwähnenswert sind auch die Feierlichkeiten in Mexiko zur fünften Jahreszeit. In der Hafenstadt Veracruz ist Karneval das mit Abstand größte Volksfest. Auch hier vermischt sich katholischer Glaube mit alten Traditionen der Urvölker. Lange bevor die Spanier den Karneval einführten, wurden um eine ähnliche Zeit herum die Unglückstage, die „días de mal agüero” des Aztekenkalenders begangen. Traditionell machte man an diesen Tagen sein Gesicht in der Öffentlichkeit unkenntlich, durch Verhüllungen und Masken, um nicht vom drohenden Unheil entdeckt zu werden. Ähnliches fand sich auch im Maya-Kalender wieder, die „días perdidos“, die verlorenen Tage. Hier passte das christliche Konzept des Karnevals gut zu den verankerten Traditionen, da die Masken eine ebenso große Rolle spielten.
Neben der beliebten Karnevalskönigin, wird in Mexiko auch ein „rey feo“, ein hässlicher König gekürt. In Mazatlán im Norden Mexikos wird eine große Puppe aus Pappe und alten Stofffetzen verbrannt. Sie steht symbolisch für die schlechte Laune, die „malas vibras“, die man in der Karnevalszeit nicht haben möchte. Jedes Land und jede Region hat ihren eigenen Karneval, doch allen gemein sind die unbändige Lebensfreude, die fantasievollen und farbenfrohen Kostüme sowie die Musik, die die gute Laune auf die Besucher überträgt. Diese bunte Mischung macht jeden Karnevalsbesuch zu einem wohl unvergesslichen Reiseerlebnis.