Gewitterwolken über der Panamericana

Straßensperre Südamerika
Symbolbild Straßensperre Südamerika

Chile, Ecuador, Venezuela, Argentinien, jetzt auch Bolivien – gleich in mehreren Regionen des Kontinents gehen die Menschen auf die Straße. Was ist dort los – und wo betrifft es Reisende? Ein Überblick

Brennende Wahlbüros und Linienbusse, Straßensperren, Demonstrationen, aufgebrachte Menschen, Militär, Polizei – die Bilder aus Chile und Bolivien, die derzeit in den Nachrichten zu sehen sind, erscheinen für südamerikanische Verhältnisse der letzten Jahre dramatisch. Und nach den Entwicklungen in Venezuela, Nicaragua, Brasilien, dem drohenden Staatsbankrott Argentiniens, den Auseinandersetzungen in Ecuador und den Schwierigkeiten im kolumbianischen Friedensprozess fragen sich viele: Wohin kann das führen?

Mit seinen vergleichsweise offenen Grenzen und der soliden touristischen Infrastruktur ist Südamerika für viele Globetrotter ein Idealziel, kann man sich doch auf das Reisen konzentrieren und muss sich nicht um bürokratische Hürden sorgen. Einen großen Teil zu dieser Entspanntheit haben auch die stabilen politischen Systeme der Länder beigetragen, die derzeit – so könnte es erscheinen – hier und da ein wenig ins Schlingern geraten. In Bolivien versucht sich Präsident Evo Morales nach 14 Jahren eine weitere, vierte Amtsperiode zu sichern, in Chile gehen die Bürger wegen immer weiter steigender Lebenshaltungskosten auf die Straße, dabei stehen sie im Vergleich zum Nachbarland Argentinien noch gut da: Dort lag die Inflation zuletzt bei über 50 Prozent. Auch in Ecuador geht es ums Geld, dort wurden unlängst die Subventionen für Kraftstoffe gekappt, was die Preise für Benzin und Diesel auf einen Schlag verdoppelte.

Unmut – und die Folgen für Urlauber

Wer schon einmal entlang der Anden unterwegs war, weiß: Demonstrationen, Proteste, Rebellion, das gehört hier einfach mit dazu. Mal lauter, mal leiser, mal klein, mal groß. Und am Ende gehört allein die Möglichkeit, seiner Meinung Gehör zu verschaffen, auch zu einer gesunden Demokratie. Doch für Touristen, die weder einen Überblick über die Sachlage haben, noch der Sprache mächtig sind, kann schon die Anwesenheit zur falschen Zeit am falschen Ort problematisch sein, gefährlich seltener. Dieser Auffassung ist auch das Auswärtige Amt, für kein Land Südamerikas besteht derzeit eine Reisewarnung, weder grundsätzlich noch in Teilen. Ein Überblick vom 24. Oktober 2019.

Argentinien

Im September diesen Jahres war Argentinien nicht in der Lage, seine Staatsschulden fristgerecht zu bedienen. Eine Staatspleite schwebt in der Luft, es wäre, nach 2001 und 2014, die neunte. Präsident Mauricio Macri, seit 2015 an der Spitze des Staates, schränkte daraufhin den Devisenhandel ein, zunächst bis zum Jahresende. Privatpersonen können so derzeit maximal 10.000 US-Dollar pro Monat einkaufen, so soll die Geldflucht eingedämmt werden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Seit Monaten ist der argentinische Peso im freien Fall, gab es 2017 noch 18 Pesos für einen US-Dollar, sind es aktuell 60. Tendenz: weiter fallend. Für Touristen ist das eine tolle Sache, denn es macht das Reisen billig. Die Argentinier hingegen haben sich schon daran gewöhnt, dass sie oftmals vor dem Einkauf nicht wissen, welcher Preis heute an den Lebensmitteln klebt. Große Proteste gibt es deshalb derzeit nicht, es scheint, als habe man sich mit der Situation arrangiert. Oder ist es nur die Hoffnung, dass ein neuer Präsident das Ruder herumreißt? Am 27. Oktober diesen Jahres werden Präsident und Parlament neu gewählt. Neben Mauricio Macri stellt sich Alberto Fernandez zur Wahl, mit Cristina Kirchner als potenzieller Vizepräsidentin. So neu sind die potenziellen Kandidaten also nicht – und damit ein spürbarer Wandel nichts mehr als ein frommer Wunsch, auch wenn das Pendel Poltisch von eher rechts nach eher links zu schlagen scheint: aktuell liegen Fernandez/Kirchner in Umfragen deutlich vorn.

Bolivien

Am vergangenen Sonntag (20.10.19) standen im ärmsten Staat Südamerikas Präsidentschaftswahlen an. Dass sich Evo Morales, seit mittlerweile 14 Jahren an der Spitze Boliviens, nun zum zweiten Mal auf dubiose Art eine weitere Amtsperiode zu verschaffen scheint – es gibt erste Hinweise auf mögliche Wahlmanipulation –, kommt bei den Bürgern des Landes nicht gut an. Es wurden Ausschreitungen aus La Paz und Sucre gemeldet, in der Hauptstadt brannte der Sitz der Wahlbehörde, am Regierungssitz La Paz gingen Demonstranten und Polizei auf die Straße, in Santa Cruz wurde eine Ausgangssperre verhängt. Morales, der das Land zunächst erfolgreich zu sanieren begann und hohes Ansehen bei der Bevölkerung genoss, hätte eigentlich nur zweimal zur Wahl antreten dürfen. Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtes im Jahr 2014, die eine dritte Amtszeit gestattete, begründete der Präsident seine vierte Kandidatur nun mit einer weiteren Entscheidung des bolivianischen Verfassungsgerichtes, die mit einem Ausschluss von der Wahl die Persönlichkeitsrechte Morales‘ verletzt sah.
Der erste indigene Staatschef ist in seinem Land nicht unbeliebt. Kein Wunder, verhalf er Bolivien doch zu einem beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung, der auch in der Breite der Bevölkerung zu spüren war. Die Ausschreitungen entzünden sich an der Vermutung, dass das Wahlergebnis um 1,5 Prozentpunkte angepasst wurde, um einer möglichen Stichwahl gegen seinen konservativen Herausforderer Carlos Mesa zu entgehen.

Wer sich außerhalb von La Paz, Sucre oder Santa Cruz aufhält, wird von den Auseinandersetzungen kaum etwas mitbekommen. Grundsätzlich tauchen die drei großen Städte des Landes aber ohnehin nur bei wenigen Reisenden (zu Unrecht) in der Routenplanung auf. Demonstrationen in Form von Straßenblockaden sind in Bolivien jedoch üblich, hier sollte man sich defensiv verhalten und eine Umfahrung suchen. Die Stichwahl, sollte sie doch noch anberaumt werden, ist für Dezember geplant. Die Opposition hat am 23.10. bekanntgegeben, den Wahlsieg Morales‘ nicht anzuerkennen.

Chile

Eine Erhöhung der Ticketpreise des öffentlichen Nahverkehrs von Santiago und die Anhebung der Stromkosten waren bei den Chilenen die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Obgleich Chile das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Kontinentes hat, der Lebensstandard sehr hoch, annähernd europäisch ist, beklagen die Chilenen immer schneller steigende Lebenshaltungskosten und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Der Slogan der Proteste „Chile Desperto“ (Chile erwacht) lässt erahnen, dass sich hier derzeit auch eine grundsätzliche Unzufriedenheit Bahn bricht. Gerade in den Großstädten Santiago de Chile, Valparaiso und Concepción kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, Präsident Piñera ließ das Militär aufmarschieren, erstmals seit dem Ende der Pinochet-Diktatur, verhängte Notstand und nächtliche Ausgangssperren in verschiedenen Regionen des Landes (Antofagasta, La Serena, O´Higgins, Maule, Ñuble, BioBio, Araucanía, Los Rios und Magallanes).

Die Proteste richten sich landesweit gegen staatliche Einrichtungen, jedoch wurden auch Supermärkte geplündert, eine Kleiderfabrik und ein Baumarkt in Brand gesteckt. Mit Einschränkungen im Straßenverkehr rund um die Städte sollte man rechnen. Das Auswärtige Amt empfiehlt, sich aus Menschenansammlungen herauszuhalten. In entlegeneren Landesteilen sollte die Situation unproblematisch sein, ein kurzfristiges Abflauen der Chile-Desperto-Bewegung ist aber nicht anzunehmen, auch wenn die Erhöhung der Ticketpreise mittlerweile aufgehoben wurde.

Ecuador

Der Plan der Regierung, die staatliche Subvention von Kraftstoffen zu streichen, stieß Mitte des Monats auf großen Widerstand in der Bevölkerung, es gab Demonstrationen, Straßenblockaden und Ausschreitungen. Mittlerweile sind die größten Wogen geglättet, am 14. Oktober wurde eine grundlegende Einigung erzielt, die Straßenblockaden geräumt. Interessantes Detail: An der Entwicklung vor Ort ist der Internationale Währungsfonds (IWF) nicht unbeteiligt, eine nähere Analyse dazu lesen sie hier. Der bis zum Monatsende ausgerufene Ausnahmezustand bleibt bestehen, dieser sichert der Exekutive weitreichenderen Handlungsspielraum – was sich durch verstärkte und intensivere Kontrollen und Restriktionen auch auf Touristen auswirken kann. Eine Website, die aktuelle Straßensperren auflistet, gibt es hier. 

Venezuela

Unverändert unübersichtlich bleibt die Lage im Karibikstaat. Während Deutschland offiziell Juan Guaidó als Interimspräsidenten führt, ist de facto weiterhin Nicolas Maduro an den Hebeln der Macht, das Auswärtige Amt rät von „nicht erforderlichen“ Reisen nach Venezuela ab, spricht aber keine offizielle Reisewarnung aus. Allerdings wird auf folgendes hingewiesen: „Seit Anfang Januar 2019 kommt es landesweit und insbesondere in der Hauptstadt Caracas zu Protesten und Demonstrationen mit teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen. Mehrere ausländische Journalisten wurden festgenommen. Der Ausnahmezustand über das gesamte Land gilt bereits seit Mai 2016, der wirtschaftliche und medizinische Versorgungsnotstand besteht fort. Soweit Trinkwasser verfügbar ist, wird dieses nicht in der gewohnten Qualität bereitgestellt. Es herrscht zudem eine akute Knappheit an Banknoten. Seit Anfang März 2019 gibt es fast im gesamten Land wiederkehrende Stromausfälle sowie Störungen der Mobilfunknetze und des Internets. Auch der Flughafen Caracas International kann zeitweilig betroffen sein. Caracas wird zudem nur noch von wenigen Fluggesellschaften angeflogen. Kurzfristige Flugausfälle, Änderungen der Flugzeiten und Routen sind möglich. Die See- und Luftgrenze zu den Niederländischen Überseegebieten (ABC-Inseln) ist weiterhin geschlossen. Die weitere Entwicklung der Lage ist nicht absehbar. Viele der unter Sicherheit genannten Risiken werden durch die aktuelle Krise verstärkt.“ 

Abgeraten wird von der Ausreise nach Kolumbien und in die Grenzregionen zu Brasilien – damit ist das Land für Globetrotter auf dem Landweg quasi isoliert, mit Ausnahme des Weges über Guyana.

Kolumbien

Seit Jahren ist man in Kolumbien bestrebt, den Friedensprozess mit der FARC fortzuführen und die Sicherheitslage im Land Stück für Stück zu verbessern. Globetrotter, die Kolumbien bereisten, erlebten das Land und seine Bewohner aufgeschlossen und schwärmten von der Fahrt zwischen Pazifik, Karibik und Anden. Diese Euphorie erhielt zuletzt einige Dämpfer, denn die Bemühungen gerieten ins Stocken. Das Auswärtige Amt schreibt dazu: „Guerillareste (ELN, EPL), FARC-Dissidenten sowie Gruppen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität verüben weiter Gewalttaten und liefern sich Bandenkriege im Kampf um die Vorherrschaft in den Drogengebieten. Die genannten Gruppierungen sind in vielfältigen Deliktsfeldern (Drogenökonomie, illegaler Bergbau, Schmuggel, Erpressung, Entführung, Anschläge, Gewalt- und Tötungsdelikte usw.) aktiv und gehen aggressiv gegen Eindringlinge bzw. potentielle Opfer vor. Dies gilt insbesondere in den Grenzregionen Kolumbiens und in ländlichen, dünn besiedelten Gebieten.  Dort ist die staatliche Kontrolle weiterhin nicht gewährleistet. Auch wenn Touristen in der Regel nicht Ziel von Anschlägen sind, besteht die Gefahr von Kollateralschäden.“ Bedenken löste auch das am 29. August 2019 veröffentlichte Manifest (hier in einer deutschen Übersetzung nachzulesen ) von Guerillakommandant Iván Márquez aus, der darin die die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes der Farc-EP erklärt und begründet.

Reisende, die Kolumbien durchqueren, sollten also, neben dem Blick auf die Schönheit des Landes, die eigene Sicherheit nicht außer Acht lassen und die Entwicklung Kolumbiens aufmerksam beobachten.

Teilen