Ford F-550 „Turtle V“ – American Iron

Westlich des Atlantik gelten andere Maßstäbe beim Fahrzeugbau. Wie ein Fernreise­mobil made in the US aussehen kann, zeigt der Ford F-550 „Turtle V” von Monika und Gary Wescott, einem Globe­trotter-Paar mit viel Erfahrung

Turtle V, ein Ford F-550, ist bereits das fünfte Reisemobil der Wescotts

Die Galapagos-Schildkröte bewegt sich langsam. Sie nimmt sich Zeit, um die Umgebung zu betrachten, trägt ihr Zuhause auf dem Rücken und zählt zu den größten ­Exemplaren ihrer Art. Es gibt wohl kaum einen besseren Paten für das Reisemobil von Monika und Gary Wescott: Sie sind mittlerweile mit der fünften „Turtle” auf Reisen, jede einzelne Kröte wurde ein Stück größer als die vorangegangene.

Die meisten Amerikaner neigen zu kleineren Basisfahrzeugen wie dem Jeep Wrangler oder dem Toyota Land Cruiser, schließlich geht es meist nur auf kleinere Wochenendabenteuer. Aber was wäre, wenn sie um die Welt fahren würden? Wie würden sie ihr Fahrzeug ausstatten, um die entlegensten Orte der Welt zu erkunden?

Monika und Gary, mit ihrer „Turtle Expedition” in der US-Szene gut bekannt, sind in den letzten 40 Jahren mit allen erdenklichen Fahrzeugen um die Welt gereist, die jüngste Tour dieser zwei unerschrockenen Reisenden erstreckte sich über zwei Jahre und 70.000 Kilometer durch Europa, den Nahen Osten und Asien. Ihr aktuelles Fahrzeug spiegelt jahrzehntelange Erfahrung mit dem wider, was funktioniert und was nicht. Dabei finden sich viele europäische Ideen in „Turtle V”, gleichzeitig ist sie ein Lehrbuchbeispiel für den ultimativen amerikanischen Overlander.

Monika und Gary Wescott haben mit „Turtle V ”schon über 300.000 Kilometer geloggt

Material & Konzept

Nachdem die Wescotts mit einem konventionellen Wohnmobil durch Südamerika und Sibirien gefahren waren, verstanden sie, dass Maße, Gewicht und Haltbarkeit eine wichtige Rolle spielen. Sie wussten auch, dass eine steife Wohnkabine, befestigt an einem flexi­blen Leiterrahmen, nicht funktionieren würde. Und die Box von Turtle V ist steif! Ein außenliegender Rahmen aus Aluminium wurde mit GFK-Sandwichplatten ausgefüllt, der Sandwichkern aus Nida-Core-Waben hält das Gewicht niedrig.

Augenfällig ist die Dachform, die mit ihren stark angeschrägten Stirn- und Seitenteilen an die Rettungswagen-Aufbauten der Bundeswehr-­Unimog erinnert und dem Aufbau seine Wuchtigkeit nimmt. Auf beiden Seiten und am Heck sind Seitz-­Fenster eingesetzt. Sie sollen für viel Licht und eine gute Querlüftung sorgen. Und um sicherzustellen, dass die Verwindung des Ford-Leiterrahmens nicht auf den Aufbau übertragen wird, kam ein Dreipunktlager zum Einsatz: zwei Lager vorn und eines hinten, das um ­einen Mittelpunkt schwenkt.

Das Ergebnis ist ein gut isolierter, leichter und strukturell einwandfreier Schildkrötenpanzer mit 1,56 Metern Bodenlänge. Zur Jahrtausendwende war ein Konzept wie dieses in den USA noch äußerst unpopulär, viele Ideen griff das Paar bei deutschen Herstellern wie Unicat oder Langer + Bock auf, deren Fahrzeuge sie auf ihren vorherigen Reisen entdeckten und deren Bauqualität sie beeindruckte.

Der Turtle-Ford ist ein Lehrbuchbeispiel des ultimativen ­amerikanischen Overlanders

Die Seilwinden-Stoßstange mit Lampengittern ist extrem robust, die Warn-Winsch stemmt bei Bedarf 75 Kilonewton auf die unterste Seillage. Am Heck sind die Sandbleche schnell griffbereit, das Ersatzrad hängt direkt an der Sandwich-Kabine. Mehr Bilder von Turtle V: explr.de/21226

Federung & Antriebsstrang

Das Basisfahrzeug ist ein Ford F-550, der 1999 aus Fords Lkw-Werk in Kentucky ausgeliefert wurde. Der Laster mit Pickup-Attitüde hat ab Werk eine eher rustikale Federung und wurde deshalb erst einmal ordentlich aufgerüstet: Besser ansprechende Blattfedern von Deaver und ein Satz einstellbare Rancho-Stoßdämpfer waren der erste Schritt, eine Zusatzluftfeder von Hellwig und ein nachgerüsteter Stabilisator sollen die Wankneigung im Zaum halten. Die auf Rickson-­Felgen aufgezogenen 335/80 R20 kommen aus Übersee: Die Wescotts setzen auf die als unzerstörbar geltenden ­Michelin XZL, kombiniert mit einer SmarTire-­Reifendrucküberwachung.

Um die auch für US-­Maßstäbe massiven Räder überhaupt montieren zu können (die originalen 19,5-Zoll-Räder sind im Durchmesser gut 20 Zentimeter kleiner), waren einige Modifikationen nötig: Die Lenkung bekam hydraulische Unterstützung, die Getriebe-Übersetzung wurde angepasst und die Radkästen wurden stark ausgestellt. Aber wenn man schon an den Rädern dran ist, kann man ja auch gleich die ganzen Achsen umbauen: Vorn befindet sich nun eine Dynatrac-60-Achse mit Freilaufnaben und ­einer Differentialsperre von ARB, während die Hinterachse (ebenfalls vom Heavy-Duty-Hersteller Dana) ein selbstsperrendes Limited-Slip-Differential implantiert bekam. Diese massiven Komponenten haben ihren Preis: 6,9 Tonnen Gesamtgewicht bietet der Ford, die Silhouette eines Pickup auf Steroiden täuscht.

Der Koffer ist im Dachbereich angeschrägt, der Hecküberhang fällt extrem kurz aus

Nicht kleckern, sondern klotzen war auch bei den Tanks die klare Devise: 170 Liter Diesel im Haupttank, 144 Liter im Reservetank und noch einmal 40 Liter in Kanistern versprechen eine Reichweite von 1.600 Kilometern: Der Verbrauch von 22 Litern auf 100 Kilometern ist wohl der einzige zurückhaltende Fakt an dieser Riesenschildkröte. Ungewöhnlich ist die Idee, einen 45 Liter großen Vorratstank für Motoröl unterzubringen, um bei anstehenden Ölwechseln immer die passende Qualität verfügbar zu haben. Ein Ausrüstungsgegenstand, der wohl nur auf langen Touren in wirklich ­abgelegene Regionen seinen Nutzen entfaltet, aber wer Zeit seines Lebens reisend die Welt erkundet – sich sogar abseits der Heimat kennen- und lieben lernt, weiß um seine Bedürfnisse. Und zweifelsohne sind Monika und Gary Wescott von diesem Kaliber.

Sie Schweizerin, geboren und aufgewachsen in Marokko, er als US-Amerikaner in Mexiko groß geworden, haben in der US-amerikanischen Overlanderszene Kultstatus. Ihre erste gemeinsame Tour startete das Paar im Jahr 1977, damals noch in einem Land Rover 109. Nach über 40 Reisejahren ist die Turtle Expedition zu einem kleinen Unternehmen geworden, Sponsoren tragen die Fixkosten der Reisen, regelmäßig werden Artikel veröffentlicht und wird der Blog aktualisiert.

Das Cockpit des 99er-Ford blieb weitgehend original, nur eine Mittel- und Dachkonsole kamen dazu

Motor & Technik

Auch das fünfte Turtle-Mobil hat bereits einiges von der Welt gesehen, 220.000 Meilen stehen auf dem Tacho, das sind stolze 354.000 Kilometer. Nicht ohne Grund gilt der 7,3-Liter-Diesel-V8 als einer der robustesten Motoren, die Ford je herstellte. Ein zusätzlicher Turbolader verhilft dem Motor zu 305 PS und ordentlich Drehmoment, das über ein ZF-6-Gang-Schalt­getriebe an das Verteilergetriebe weitergegeben wird. Spezielle Vorfilter für Diesel und Motoröl sowie eine hochwertigere Diesel- und Wasserpumpe wurden ebenfalls montiert, was der Standfestigkeit des Motors offensichtlich gutgetan hat.

Ab Werk wurde eine zweite Lichtmaschine montiert, die mit 200 Ampere Leistung die Aufbaubatterien mit Strom versorgt. Diesen Energienachschub braucht es auch, denn Turtle V ist vollgestopft mit Technik. Vor der Haube, in der großen Stoßstange, steckt eine Seilwinde mit 7,5 Tonnen Zugkraft, darüber eine ganze Batterie von Fernscheinwerfern. Ähnlich vollgeräumt ist das Heck: ­Ersatzrad, Hi-Lift, Sandbleche, Wasser- und Diesel­kanister nehmen jeden verfügbaren Zentimeter ein, das Rad wird bei Bedarf mit einem kleinen Kran und angesteckter Akkuschrauber-Winde abgesenkt.

Bequem sieht anders aus: Vierpunktgurte und Kopfhörer mit Gegensprechanlage lassen auf den Fahrkomfort schließen, aber wer seit über 40 Jahren mit Autos reist, ist Schlimmeres gewohnt: Das erste Auto des Paares war ein Land Rover 109

Wohnen & Fahren

Erscheint Turtle V von außen noch martialisch und überkomplett, wird es im Innenraum plötzlich verblüffend schlicht. So bekam das Fahrerhaus neben einer ordentlichen Portion Schalldämmung nur eine hübsche Mittelkonsole aus Walnussholz und bequeme Recaro-Sitze mitsamt Vierpunktgurten.

Auch in der Kabine steht Nutzwert vor allem. Was sofort auffällt: Eine Nasszelle gibt es trotz der enormen Fahrzeuggröße nicht, das aus der Sitzgruppe vor die Eingangstür herausziehbare Chemie-WC mutet wie ein schlechter Witz an. Ein kleiner Vorhang separiert das Örtchen und verwandelt den Bereich bei Bedarf auch in eine kleine Dusche. Wer jahrzehntelang in kleinsten Autos auf Reisen war, gewöhnt sich offenbar an den Ausflug in die Natur. Und setzt Prioritäten: In der vorderen Hälfte derselben WC-Sitzbank ist ein kleiner Weinkeller eingebaut.

Die viel gereisten Wescotts haben in der US-amerikanischen Overlanderszene schon lange Kultstatus

Die enorme Küchenzeile auf der Fahrerseite wird damit auch zum Badezimmer, denn der Truck wird nicht nur in sommerlich warme Regionen gefahren, auch eine Winterdurchquerung Sibiriens steht bereits im Fahrtenbuch der Globetrotter. Corian-Oberflächen und dunkles Echtholz kosten zwar einige Kilogramm Gewicht, nur wenige Expeditionsmobile mit ähnlicher Laufleistung stehen aber so aus dem Ei gepellt da, wie diese Schildkröte. Statt Scharten, Kratzern und Reparaturen erinnern im Wohnraum allenfalls Bilder und Souvenirs an die vielen unternommenen Touren auf der ganzen Welt. Gekocht wird mit Gas, 20 Kilogramm reichen dem Paar für drei Monate Reisezeit.

Die Inspirationsquelle „deutscher Fahrzeugbau” wird Fachleuten direkt beim Eintreten bewusst: Eine angeschrägte Dinette auf doppeltem Boden quer zur Fahrtrichtung, unter dem Tisch der Durchstieg ins Fahrerhaus, Heizkörper im Podest – das ist Unicat-Stil und bis heute in kompakten Aufbauten eine gute, sinnvolle Lösung. Toll: die Weltkarte auf dem Tisch. An der Rückwand ebenfalls ein Klassiker, das ausziehbare Querbett. Hier muss jedoch nur ein Mittelsegment verschoben werden, die Matratze liegt rechts und links direkt auf den Corian-Arbeitsplatten auf.

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Energie & Wasser

Dass auf dem Dach 170 Watt Photovoltaik liegen und ein 2 kW starker Inverter jederzeit Strom im Überfluss bereitstellen kann, ist heutzutage nichts Besonderes mehr. Verblüffend ist hingegen, dass mit 80 Litern Volumen der Frischwassertank geradezu winzig ist, erinnert man sich daran, dass sogar Platz für einen 45 Liter großen Ersatz­öltank war.

Offenbar wurde dem Wohlbefinden des ­Autos immer ein höherer Stellenwert ­beigemessen als dem eigenen Komfort: Per Wärmetauscher wird der V8 vorgewärmt, aber einen Lattenrost unter dem Bett gibt es nicht.

Obwohl fast sieben Tonnen schwer, ist der gebotene Komfort im Aufbau von Turtle V vergleichsweise karg, ein Bad gibt es nicht

Und doch ist das Paar seit vielen Jahren glücklich mit der weit gereisten Kröte. „Wenn ich ­einen Blankoscheck für einen Neubau hätte, würde ich nur sehr wenige Dinge ändern”, erzählt Gary Wescott. Bedenkt man, dass ihre erste Reise 1977 mit ­einem knappen Budget von 25 US-Dollar pro Woche begann, ist dieser Ford F-550 tatsächlich ein luxuriöses Hotel auf Rädern, und das Leben als Identifikations­figur einer ganzen Szene ein besonderes Privileg.

Eines, dem noch einige Kapitel hinzugefügt werden sollen: Sobald wie möglich wird sich das Trio nach Südamerika aufmachen, um eine mehrjährige Expeditionsreise durch die südliche Hemisphäre zu beginnen – ­natürlich langsam, wie es Schildkröten tun.

 

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